(23-06-2015, 17:49)onemctly schrieb: Weiß ...jemand ...ob er selbst Religiös war und in wie weit er dies "Ausgelebt" hat?
Religiös im herkömmlichen Sinn war E. Fromm nicht, obwohl er in einem orthodox-jüdischen Elternhaus aufgewachsen war. Er war Marxist und Atheist gewesen. Nach Eigendefinition war er von "atheistischer Religiosität". Was er damit ausdrücken wollte, geht, denke ich, einigermaßen aus folgendem Text hervor:
Jeder Versuch, die religiöse Eigenart des Systems von Marx zu verdeutlichen, stößt auf fast unüberwindliche Hindernisse. Ein erstes Hindernis stellt bereits der Begriff "religiös" dar, der im allgemeinen so verstanden wird, dass er den Glauben an Gott beinhalte. Dies ist ein typischer, auf Europa zentrierter Provinzialismus. Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus waren Religionen ohne Gottesvorstellung. Die Religionen Europas - Judentum, Christentum und Islam - benützten das Symbol "Gott", weil die soziale und politische Organisation der Länder des Nahen Ostens es nahelegten, den obersten Wert mit dem Begriff des höchsten Vaters oder Königs zu symbolisieren.
Jahrhundertelang waren die Europäer so arrogant, das Symbol des weißen Mannes als konstitutiv für jede Religion zu bestimmen. Während dies die populäre Reaktion war, lösten die Theologen das Problem etwas eleganter und sprachen immer dann von "primitiven" Religionsformen, wenn ihrer Meinung nach die Religion sich noch nicht voll entwickelt und zur Anerkenntnis eines Gottes als des höchsten Wesens geführt hatte. In der Folge reagierte beinahe jeder auf das Wort "religiös" so, wie er auf die Vorstellung von Gott reagieren würde. Man könnte diese Schwierigkeit umgehen, indem man statt von "religiös" von "spirituell" spricht - was auch ich manchmal tue. Freilich gibt es beim Wort „spirituell" Verknüpfungen zum "Spiritualismus", so dass auch dieses Wort vorbelastet ist. Die Schwierigkeit, ein geeignetes Wort für eine atheistische Religiosität zu finden, liegt jedoch nicht im Mangel an rechten Worten begründet, sondern hat historische Gründe in der Entwicklung des europäischen Denkens.
E. Fromm: Humanismus als reale Utopie, 2009, 2. Aufl., Ullstein-Verl. S.150f.
MfG B.