22-06-2015, 22:31
(22-06-2015, 12:14)onemctly schrieb: Vielleicht kann mir jemand beantworten ob seine Theorie schon veraltet ist.
Die Position Fromms ist nicht "veraltet", sondern eine von vielen religionskritischen Äußerungen, die nebeneinander Bestand haben und Denkanregungen geben.
E. Fromm sieht in der Religion ein "unüberspringbares" psychisches Bedürfnis des Menschen, dessen unzureichende Befriedigung krank macht. Im Gegensatz zu Freud sieht Fromm das Verfangensein in der Religion nicht als Neurose, sehr wohl aber "die Neurose als pervertierte Form einer privatisierten Religion".
Der Wunsch nach Religion muss nach Fromm – wie Hunger und Sexualität – in hinreichendem Maß befriedigt werden. Der Mensch brauche Ideale bzw. Objekte der Verehrung, um die nötige Orientierung zu erlangen.
Zitat:Haben oder Sein, in: E. Fromm, Gesamtausgabe, hg. v. Funk, Bd. II, Stuttgart 1980, 269f.
Ein Weltbild allein reicht als Richtschnur des Handelns nicht aus; wir brauchen auch ein Ziel, an dem wir uns orientieren können. Tiere haben keine derartigen Probleme. Ihre Instinkte versehen sie sowohl mit einem Weltbild als auch mit Zielen. Aber da uns die Determinierung durch den Instinkt fehlt und wir andererseits ein Gehirn haben, das es uns gestattet, uns viele Richtungen vorzustellen, in die wir gehen können, brauchen wir ein Objekt totaler Hingabe, einen Brennpunkt für all unser Streben und zugleich eine Grundlage für unsere tatsächlichen - nicht nur die proklamierten - Werte. Wir brauchen ein solches Objekt der Verehrung, um unsere Energien in eine Richtung zu lenken, um unsere isolierte Existenz mit all ihren Zweifeln und Unsicherheiten zu transzendieren und um unser Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben, erfüllen zu können.
Zitat:Psychoanalyse und Religion, in: E. Fromm, Gesamtausgabe, hg. v. R. Funk, Bd. VI, Stuttgart 1980, 227-292, Zitat auf S. 243.
Tatsächlich gibt es keine stärkere Energiequelle im Menschen. Der Mensch kann nicht frei entscheiden, ob er "Ideale" haben will oder nicht, aber er hat die freie Wahl zwischen verschiedenen Arten von Idealen, zwischen der Möglichkeit, Macht und Destruktion zu verehren oder sich Vernunft und Liebe hinzugeben. Alle Menschen sind „Idealisten“ ... Es gib keinen Menschen, der nicht ein religiöses Bedürfnis hätte.
Zitat:E. Fromm zum Begriff "religiös" (Zitat aus: R. Funk, Mut zum Menschen. Erich Fromms Denken und Werk, seine humanistische Religion und Ethik, Stuttgart 1978):
Wie ich den Begriff "religiös" verwende, bezeichnet er weder ein System, das notwendigerweise mit einem Gottesbegriff oder mit Idolen operiert noch gar ein System, das den Anspruch erhebt, eine Religion zu sein, sondern jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Verehrung bietet.
Fromms Eintreten für eine "humanistischen Religion" ist in seiner Meinung begründet, wonach Humanismus selbst in der Substanz religiös ist, weil dieser im Glauben an die Fähigkeit des Menschen begründet ist, zu einer besseren Existenzform zu finden.
M. Weinrich kommentiert das (in: Religion und Religionskritik, 2011 Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 233) folgendermaßen:
Der humanistischen Religion (Fromms) steht die abzuweisende autoritäre Religion gegenüber, die den Menschen nicht zu sich selbst führt, sondern ihn einer jenseits seiner selbst vorgestellten Macht unterwirft, die einen Anspruch auf Gehorsam und Verehrung erhebt. In der autoritären Religion wird die Produktivität des Menschen von einem Gefühl der Ohnmacht gelähmt und der Mensch wird zur Anpassung an die Gegebenheiten diszipliniert. In diesem Sinne sind auch säkulare Ideologien als autoritäre Religionen anzusehen, weil sie von dem Motiv geprägt sind, den Menschen ganz in ihren Bann zu ziehen und sein Gewissen in Beschlag zu nehmen. Der Gehorsam erfolgt aus Angst vor der usurpierten Autorität, Ungehorsam erweckt Schuldgefühle. Ein solches autoritäres Gewissensverständnis diagnostiziert Fromm beispielhaft bei Paulus, Augustin, Luther u n d Calvin. Der hier vertretene Glaube bedeutet substanziell die Entfremdung des Menschen von sich selbst, weil er von den Potenzialen wegführt, die im Menschen selbst liegen und auf eine ihm entsprechende Entfaltung warten.
MfG B.