Zitat:Marty/Appleby schrieb:
Der Fundamentalismus ist … eine religiöse Weise des Daseins,
die sich als Strategie manifestiert,
vermöge derer Gläubige versuchen,
ihre unverwechselbare Identität als Volk oder Gruppe zu bewahren,
wenn sie sich als im Belagerungszustand befindlich ansehen.
In dem Gefühl der Bedrohtheit dieser Identität
suchen Fundamentalisten ihre Identität
durch eine selektive Wiederbelebung von Doktrinen, Glaubensvorstellungen und Praktiken
aus einer intakten, heiligen Vergangenheit zu befestigen. ('Fundamentalisms Comprehended', Chicago 1995)
Danke, dass Du das rausgesucht hast, Quilin, auch zuvor,
Es ist ja so, dass hier im oeffentlichen Sprachgebrauch keine Ruecksicht genommen wird, etwas als "Fundamentalismus" zu bezeichnen, ohne sich auf diese Definition zu beziehen, zumal das im oeffentlichen Raum ja auch nur in abwertendem Sinne gemeint ist.
Das obige Zitat zeigt ja den legitimen Grund auf, warum Menschen zu dem Mechanismus greifen, sich relativ hastig auf ein paar Eckpunkte festzulegen, woran sie einander als die getreue Gruppe erkennen wollen. Es ist Notwehr und ist nicht auf immer geplant, so reduziert zu bleiben, auch wenn daraus immer mal wieder auch Sekten entstehen, die davon ausgehn, dass man mehr auch nicht braeuchte.
Wenn das eine Volksbewegung macht, wird es wohl nicht theologisch ausgewogen an alles gedacht haben, was zuvor wirklich das Eigene, das Identische, ausmachte.
Die andere Seite der Angelegenheit "Fundi" ist die Tatsache, dass das Wort ja nicht alt ist, seit es gepraegt wurde, und dass die Mehrheit der Wahrnehmung im Alltag heutzutage eben nicht jenen Inhalt meint.
Ich denke, ich hab eine recht breite Wissensbasis und Freiheit, damit unter verschiedensten anderen Kulturen nicht meine Identitaet zu verlieren, also nicht, dass ich mich an ein paar Eckpunkte klammern muesste. Trotzdem definierte mich jemand vor Jahrzehnten als Fundamentalisten
- naja, es ging mir wie dem Mann, der beleidigt wurde, aber erstmal das Wort im Lexikon nachsehn wollte, um zu entscheiden, ob er sich darueber aufregen sollte ... ich war dem Wort noch nicht begegnet und leitete es mir aus dem Wort Fundament ab, nicht aus Fundus *g*
Ich sah darin also nichts weiter Bedenkliches, wenn ich es also "auch" waere.
Es wird der Grund sein, dass in diesem Fall das selbe Wort im selben Jahrhundert nacheinander aus zwei Quellen entstand.

Es ist in der Diaspora - wo man verstreut zur Minderheit gehoert - ein Faktum bleiben, dass die staendige Konfrontation mit anderen einen Glaeubigen auf die Dauer von jedem Insider unterscheidet. Einerseits soll er - oder mag - den Kopf hinhalten fuer das Ganze, das er vor Ort in eigener Person praesentiert.
Da wirkt sich natuerlich stark aus, dass andere die ganze Religion nach eben diesem einen Menschen abschaetzen - man kann sich zum Guten wie zum Schlimmen dabei sehr irren. Aber der Einzel-Vertreter seiner Konfession kann eben nicht die interne Vielfalt darstellen, wie er sie noch selbst kennt. Der Eimzelne kann diese anderen ja nicht selbst sein.
Ein Unterschied ist dann noch: welche Art von Diaspora ist es?
Es gibt Menschen, die innerhalb Brauch, Sitte und Konfession noch in einem geschlossen gleich-glaeubigen Siedlungsgebiet aufwuchsen, innerhalb all der a-verbalen Signale der Zusammengehoerigkeit.
Wenn diese etwa berufsbedingt oder vertrieben, geflohen, in eine andersglaeubige Umgebung ziehn, freuen sie sich ueber jeden Landsmann, den sie dann noch antreffen. Man wird zusammenhalten moegen und einander helfen, sich gemeinsam erinnern, und das Gesamt an die Kinder weitergeben wollen und weithin auch koennen.
Daher kennt die Welt "Ausgewanderte oder Vertriebene nach mendelschen Regeln" bis zu mehreren Generationen.
Die intensivsten, genauesten, Heimat-Beschreibungen tragen ohnehin die Vertriebenen der Weltliteratur bei. Sie werben um ihr selbst erinnertes Leben.
Eine andere Diaspora ist eine Gemeinde aus Missionierten, Konvertiten, denen ist das gesamte Feld des Brauchtums, das sich ans Gemuet wendet, welches in der Heimat ihrer Konfession den Alltag begleitete, ja gar nicht bekannt, und es wurden eher Lehre und Argumente vermittelt. Es kann sein, dass sie auch mal meinen, das Drumherum sei auch nicht noetig, kann auch sein, dass sie das nicht uebernehmen wuerden - denn es entspraeche nicht ihrem gehabten Brauch.
Ich hab das mal verglichen mit Pflanzen, dieselbe Pflanzenart
a) im Freiland, zuhause "einfach" aufgewachsen -
b) im Treibhaus, die das Zuhause in die Fremde tradieren -
c) im Blumentopf, die konvertierten -
Am Unterschiedlichsten zu einander koennen die Menschen der Kategorie a) ihre Konfession realisieren, deren Landeplatz wird immer inmitten der anderen sein, wie auch immer ihr Leben verlaeuft. Es sind viele Ebenen da, auf denen sie verkrnuepft bleiben koennen.
Die Menschen der Kategorie b) wirken schon kuenstlicher, weil im Treibhaus zwar die Blueten genormter und die Blaetter gesaettigter sein koennen, aber man hielt ihnen Schaedlinge fern und andererseits sortieren sich Kuemmerlinge aus jeder Ebene alsbald heraus, ob etwa nur die eine Ebene nicht mehr funktioniert oder nur die andere. Es ist so nahe, wegzulaufen.
Die Menschen der Kategorie c) sind in einer Hnsicht sturer, und inn anderer Hinsicht vor-selektiert durch die intellektuelle Rechthaberei, denn man hatte sich selber entschieden. Ein Blumentopf hat keine welken Blaetter zu haben, und abgebluehte Blueten werden meistens weggezupft, damit es wieder bluehe, auf Fruechte wartet fast niemand. Er muss immer gut aussehn, normalerweise - oder die ganze Pflanze wird ersetzt durch eine andere. Dafuer wird sie gegossen und mit Naehrstoffen versorgt.
- Es kann verschiedene Gruende haben, ein "Glaeubiger im Blumentopf" zu werden, mal Angezogen-Sein, mal auch ein Weglaufen.
Beim Weglaufen rennt der Mensch vielleicht nur bis zur naechsten Strassenecke - wenn niemand ihn sofort zurueckholen will - aber ein Phaenomen ist merkwuerdig: es kann denen viel schlechter ergehen als es je zuvor war - sie kehren nicht wieder zurueck.
Religionen haben oft Zuwachs wegen Heiraten - gepriesen werden aber theoretisch mehr diejenigen, die von der Lehre ueberzeugt dazu gekommen sind. Konvertiten sind mitunter theorie-lastig und dann anstrengend fuer Alt-Zugehoerige, weil sie die Lehre einfordern und zum Richter bestimmen fuer Konflikte verschiedenester Art. Dann nennt man Konvertiten eine "Last". Sie halten einem eventuell recht ungnaedig einen Spiegel vor.
Dagegen kann ja auch ein im Wissen Mittel-Orientierter wenig sagen, es sei denn, der muesste sich ausdruecklich gegen die Lehre outen, was einer nie brauchte, solange ihn keiner drauf festnagelte.
Andererseits bringen Konvertiten grad wegen ihres frischen Einblicks in die Lehre ihre Schoenheiten und interkonfessionellen Werte mehr zu Bewusstsein. Die andern Glaeubigen, in der Routine von Freiland oder Gewaechshaus, haetten es sonst ja fast nicht mehr bemerkt, was sie haben. Dann ergaenzt es sich optimal.
Die Freilandpflanzen koennen weit ins von der Theorie Abweichende gehen, bleiben trotzdem identisch dazugehoerig und werden geduldig zur Kenntnis genommen, auch wenn sie schon fuer Gewaechshaus und Blumentopf ganz eindeutig untragbar geworden waeren.
Ich glaube, dies laesst sich auch auf den Islam uebertragen.
Um zum Thema "Fundi" zurueckzukommen: die Notwehr-Fundis, die den zufaelligen Fundus, den sie einpacken konnten, bewahren, sind eher im Gewaechshaus zu finden, die Fundis, die aus 3-4 Eckpunkten (das Buch plus "mein" Verstand) das ganze Gebaeude zu erstellt ernennen, eher im Blumentopf.
Gerecht koennen wir mit dem Muslim unter uns nur umgehn, wenn wir ihn nicht einfach mit allen anderen Muslimen pauschal betrachten.
Vergleichen wir es mit dem Buddhismus. Gautama Buddha war ein Hindu-Prinz in Nepal. Was er eigentlich lehrte ("Der kleine Diamant-Wagen"), ist heute die Lehre eines Landes weit weg. Der "Grosse Diamant-Wagen" wurde lange Zeit immer nur von Indern gelehrt, und es ist nicht so, dass er das nicht etwa mit lehrte, auch wenn er das nicht alles schrieb. Was er schrieb, war vor dem inneren Hintergrund seiner Gegenwart geschrieben, im Freiland. Die Varianten im Ausland wurden grossteils "Gewaechshaeuser, die Freiland wurden".
Jedes Land fuegte naemlich daran vieles vom Eigenen, alles was sich dahin uebertragen liess, damit es ihr eigener Glaube werden konnte. Davon hatte ja einiges vorher noch gar kein theoretisches Dach.
Bezueglich des Islam der als Diaspora nich nicht so viel Erfahrungen hat wie das Judentum und Christentum, sind inzwischen auch all diese Unterschiede zu finden. Durch das Veraendern ganzer Staatsformen in den alten Laendern, wo er flaechendeckend Landesreligion war, ist ja auch teilweise die Saekularisierung sehr verbreitet, weil die interne Fluktuation durch sozialistische Revolutionen, Flucht und Vertreibungen das Gesamt, welches vorher teils Jahrhunderte lang gewachsen war, auf der Ebene von Brauch und Sippen-Struktur verloren ging.
Es betrifft 1/6 der Menschheit - dem trau ich durchaus zu, damit auch zurechtzukommen.
mfG WiT :)