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Mysterienkultischer Hintergrund der Christus-Figur
#1
Hallo zusammen.

Unter der Prämisse, dass die Jesus- bzw.- Christus-Figur des NT ein literarisches Konstrukt ist, will ich eine hypothetische Rekonstruktion ihres religionsgeschichtlichen Backgrounds zur Diskussion stellen.

++++

Das religiöse Leben im Judäa des 1. Jahrhundert CE wurde zum einen durch das heftige Verlangen nach einem ´Messias´ und zum anderen durch die Hingabe vieler hellenisierter Juden an mysterienkultische Praktiken charakterisiert. Beides, (a) und (b), erfüllte damals zwei fundamentale Bedürfnisse:

(a) die Befreiung des jüdischen Volkes aus der Abhängigkeit durch Unterdrücker

(b) die Erlösung des Individuums durch die Partizipation an der Macht eines Gottes

Zur Rolle der Mysterienkulte im einzelnen:

Die antiken Mysterienkulte können als direkte Quelle des Christentums gar nicht überschätzt werden kann. Beispiel 1 Kor 10:
 
16 Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? 17 Denn ein Brot ist's, so sind wir viele ein Leib, dieweil wir alle eines Brotes teilhaftig sind.
 
Das ist antiker Mysterienglaube par excellence, nicht anders als die das Eucharistieritual begründende Abendmahlszene, die als Teil eines ursprünglich szenisch aufgeführten Erlöserdramas eines Mysterienkultes interpretiert werden kann, das sich um die Passion eines sterbenden und wiederauferstehenden Erlösergottes dreht. Die Motive der Eucharistie, der Gottessohnschaft, des Erlösers und der Taufe waren traditionelle Elemente antiker Kulte schon vor dem Christentum. Die Art, wie Jesus in der Abendmahlszene seine Jünger in das eucharistische Ritual einweiht, hat Parallelen in traditionellen Mysterienkulten, wo die Explikation des rituellen Aktes durch die jeweilige Gottheit geschieht.
 
Der Identifizierung des Brotes mit dem "Leib Christi" entsprechen z.B. das Ritual in den Eleusinischen Mysterien, bei dem der Gott Iakchos = Dionysos in Form von Brot (= mit Dionysos identifizierte Frucht seiner Mutter Demeter) und Wein (= aus dem ursprünglichen thrakischen Dionyoskult) oder ein noch stärkerer Rauschtrank (laut Hofmann/Wasson LSD) von den Gläubigen verzehrt wird, die dadurch an seiner göttlichen Transformation teilhaben, und das Ritual im Attis-Kult, bei dem der Gott in Form von Brot verzehrt wird, ebenfalls mit dem Zweck der Partizipation am Göttlichen. Ebenso intendiert der Verzehr von Brot und Wein in den Riten des Mithraskultes eine Teilhabe an der göttlichen Kraft des Mithras, genauer: die Erlangung der Weisheit für das irdische Leben und der Unsterblichkeit für das jenseitige Leben. In genau diesem Sinn bezeichnet Ignatius von Antiochien die christliche Eucharistie als pharmakon athanasias, als Medizin für die Unsterblichkeit. (Wobei die Echtheit und frühe Datierung der Ignatiusbriefe keineswegs unumstritten ist).
 
Der theologische Ausdruck für diese Dynamik ist - bezogen auf die christliche Idee der Eucharistie - ´Transsubstantation´. Psychologisch gesehen ist das eine Spielart des magischen Denkens: Materielles und Metaphysisches wird miteinander identifiziert oder zumindest stark assoziiert. So galten die altorientalischen Götterbildnisse des Polytheismus den Gläubigen nicht nur als Abbildung der Götter, sondern als deren Realmanifestation, d.h. die Götter waren in ihren Bildnissen unmittelbar anwesend.
 
Die Bedeutung der Mysterienkulte für das Individuum besteht also darin:

(1)   Es tritt in einen (zumindest subjektiv empfundenen) direkten Kontakt mit der göttlichen Sphäre, indem es am Wesen eines Gottes (Dionysos) partizipiert. Partizipation heißt: Das Individuum verschmilzt mit dem Gott im Prozess seines Sterbens und seiner Wiedergeburt. Effekt: Das Individuum erringt die Unsterblichkeit.

(2) Konkret folgt daraus: Das Individuum erlangt die Garantie für ein glückliches jenseitiges Leben. Das steht in scharfem Kontrast zu den Bedingungen der exoterischen Religion, deren kultische Observanz dem Individuum maximal ein glückliches Leben im Diesseits als Effekt des guten Willens der Götter ermöglicht.

Im Zentrum des mysterienkultischen Bemühens steht also ein Prozess, der die Bedingungen des exoterischen Polytheismus radikal sprengt: Das Individuum steht nicht einem Gott gegenüber, dessen Gnade es ausgeliefert ist, sondern hat Anteil an seiner Identität. Dieses ´Mysterium´ ist in ein polytheistisches Konzept verpackt, steht aber zugleich im diametralen Gegensatz zum Grundprinzip des exoterischen Polytheismus, dass zwischen Göttern und Menschen ein Abgrund klafft, der für die Menschen unüberbrückbar ist.

Damit ist denn auch der Typ der Erlösungsreligion entstanden, in welchem das Christentum eine seiner Wurzeln hat - die andere Wurzel ist das messianische Judentum.


Möglicherweise waren für die historisierende Ausgestaltung der ersten "christlichen" szenischen Mysteriendramen (die man als Ausgangsmaterial der Evangelien vermuten kann) die Biografien historischer jüdischer, aber nicht gekreuzigter, sondern gesteinigter Märtyrer modellhafte Vorlage- Fakt ist, dass Jahrhunderte zuvor israelitische Autoren kein Problem damit hatten, fiktionale Gestalten wie Abraham, Moses und Esther als historisch auszugeben.

Die christlichen Mythographen haben - im Rahmen meiner Hypothese - nichts anderes getan, als den verschiedenen Vorstellungen unter Einbeziehung des Kreuzigungs-Sujets eine narrative Gestalt zu geben, d.h. sie in einen neuen Mythos zu verpacken. Als Modell für den gekreuzigten Gottessohn mag die historische Gestalt des Spartacus, des gekreuzigten Sklaven, gedient haben, die im Bewusstsein der unteren Schichten als Symbolgestalt für die Erhebung gegen die römische Unterdrückung sicher weithin noch lebendig war, als die ersten christlichen Konzepte entstanden (gleich ob im 1. oder im 2. Jahrhundert CE). Aber auch unabhängig von Spartacus vermochte die Gestalt eines Gekreuzigten im jüdischen Denken den Widerstand gegen die römische Unterdrückung optimal zu symbolisieren, waren doch zahllose Juden als politische Feinde von den Römer gekreuzigt worden.
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Mysterienkultischer Hintergrund der Christus-Figur - von Tarkesh - 28-08-2016, 17:50

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