12-08-2003, 12:58
Die Institutionen der Bahá’í-Religion
Unter allen Religionen ist jene der Bahá’í die einzige, die schon in ihren Anfängen – also nicht erst im Laufe einer längeren geschichtlichen Entwicklung – eine bis ins Detail ausgebildete organisatorische Grundlage erarbeitete.
Nach Bahá’ulláh (1817-1892), dem Stifterpropheten des Bahá’ítums, ging die Führung zunächst auf dessen ältesten Sohn ’Abdu’l-Bahá (1844-1921) über. Er gilt den Bahá’í als der »Mittelpunkt des Bundes«, den Gott mit der Gemeinschaft geschlossen hat. Ihm folgte Shoghi Effendi (1897-1957) als »Hüter der Sache Gottes«. Das Amt des Hüters war als Erbamt bestimmt, indem der älteste Sohn des Hüters dessen Nachfolge hätte antreten müssen. Da Shoghi Effendi aber ohne Nachkommen blieb, erlosch das Hüteramt mit dem Tod des ersten Amtsinhabers.
1963 wurde das »Universale Haus der Gerechtigkeit« als nunmehr oberste Führungsinstanz errichtet. Es wird alle fünf Jahre gewählt (Frauen sind nicht wählbar) und setzt sich aus neun Mitgliedern zusammen. Seinen Sitz hat es in Haifa (Israel). Das UHG ist die oberste Legislativ- und Exekutivgewalt der Gemeinschaft. Es erlässt Gesetze, die nicht bereits im Kitáb-i-Aqdas, dem von Bahá’u’lláh offenbarten »Heiligsten Buch« der Bahá’í, enthalten sind. Wie die Bestimmungen des Kitáb-i-Aqdas gelten auch die Beschlüsse des UHG als unmittelbarer Ausfluss des göttlichen Willens und sind unfehlbar. Im Gegensatz zu den unveränderlichen Gesetzen des Kitáb-i-Aqdas sind jene des UHG aber modifizierbar und können von diesem bei Bedarf geändert oder wieder abgeschafft werden.
Nach Auffassung der Bahá’í ist das UHG aber mehr als nur das oberste Gremium ihrer Gemeinschaft; es ist zugleich auch jene Instanz, die in einem künftigen Bahá’í-Weltgemeinwesen (Theokratie) dazu bestimmt ist, die Weltherrschaft im Sinne einer Weltregierung auszuüben.
Shoghi Effendi, von 1921-1957 »Hüter« des Bahá’í-Glaubens, schrieb: »Seine [des Bahá’ismus] Bestätigung und Anerkennung als [universale] Staatsreligion muss folgen, welche ihrerseits den Weg frei macht für die Übernahme der mit dem Bahá’í-Staat verbundenen Rechte und Hoheitsrechte, welcher in eigener Machtvollkommenheit handelt ...« (Shoghi Effendi: Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1969, S. 27f). Und bei Abdu’l Bahá lesen wir: »Dieses Haus der Gerechtigkeit erlässt die Gesetze, und die Regierung führt sie durch« (’Abdu’l Bahá: Wille und Testament, Frankfurt/M. 1964, S. 28 ) .
Dem Universalen Haus der Gerechtigkeit nachgeordnet sind die »Nationalen Geistigen Räte«, welche die Belange innerhalb eines Staatsgebiets wahrnehmen. Der NGR wird jährlich gewählt und setzt sich aus neun Personen zusammen, wobei auch Frauen zugelassen sind. Seine Beschlüsse gelten ebenfalls als unfehlbar.
Auf lokaler Ebene bestehen die örtlichen »Geistigen Räte«, die ebenfalls jährlich gewählt werden. Auch ihre Beschlüsse gelten als unfehlbar.
Für alle gewählten Körperschaften gilt das Prinzip der Wahl, der Stimmenmehrheit und der Beratung. Insofern erfüllen sie die Grundsätze einer Demokratie. Das demokratische Prinzip erfährt durch das Unfehlbarkeitsprinzip allerdings eine wesentliche Einschränkung, indem bestehende Verordnungen, Bestimmungen oder Gesetze nicht angezweifelt oder kritisch hinterfragt werden dürfen. (Die Bestimmungen des Kitáb-i-Aqdas sind ohnehin unveränderlich und für alle Zeit verbindlich; daraus folgt, dass für die Bahá’í das weltliche [staatliche] Recht weder Quelle noch Vorbild sein kann und folglich nicht anerkannt wird. [Vgl. Udo Schaefer: Die Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, Heidelberg 1957, S. 78; Shoghi Effendi: Bahá’í Procedure, Wilmette 1942, p. 85]
Die Bahá’í bezeichnen ihre Organisation als »Verwaltungsordnung«, gegenüber der jeder Gläubige zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet ist. Wer gegen diese Ordnung verstößt, wird der »administrativen Rechte« beraubt oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, wobei jeder Verkehr mit dem Exkommunizierten – auch innerhalb der eigenen Familie – untersagt ist. Nach Udo Schaefer dient die Exkommunikation »der Reinerhaltung der Gemeinschaft der Gläubigen vor subversiven Elementen« (Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, S. 133).
Das Demokratieverständnis der Bahá’í lässt sich mit dem der westlichen Demokratien nicht vergleichen. Das Bahá’ítum ist in seinem Wesen eine Theokratie und vertritt den Grundsatz einer Gottesherrschaft, in der alle Gewalt von einer religiös legitimierten Rechtsordnung ausgeht.
»Die Verwaltungsordnung wird daher von den Bahá’í ... als jeder Verbesserung unfähig angesehen. Sie ist die wesensnotwendige, absolut richtige und darum zu allen Zeiten und an allen Orten allgemein verbindliche Rechtsgestalt der Gemeinde.« (Udo Schaefer, Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, S. 99)
Weiter schreibt Udo Schaefer: Die Gläubigen »haben keine Aktivrechte, aufgrund derer sie mitzubestimmen befugt sind, sondern kommen, gleichsam als Destinatäre in den Genuss der unfehlbaren Auslegung; sie haben hierin reine Objektfunktion.« (Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, S. 103)
Und im Testament ’Abdu’l-Bahás lesen wir: »Niemandem ist das Recht gegeben, seine eigene Meinung herauszustellen oder seine persönlichen Überzeugungen auszudrücken. Alle müssen Führung suchen und sich dem Mittelpunkt der Sache und dem Haus der Gerechtigkeit zuwenden. Und wer sich woanders hinwendet, ist fürwahr in schmerzlichem Irrtum.« (’Abdu’l-Bahá, Wille und Testament, S. 38f)
== Quellen ==
Francesco Ficicchia: Der Bahá’ísmus – Weltreligion der Zukunft? Geschichte, Lehre und Organisation in kritischer Anfrage. Stuttgart 1981.
Udo Schaefer: Die Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í. Diss., Heidelberg 1957.
www.bahai-kritik.ch
Unter allen Religionen ist jene der Bahá’í die einzige, die schon in ihren Anfängen – also nicht erst im Laufe einer längeren geschichtlichen Entwicklung – eine bis ins Detail ausgebildete organisatorische Grundlage erarbeitete.
Nach Bahá’ulláh (1817-1892), dem Stifterpropheten des Bahá’ítums, ging die Führung zunächst auf dessen ältesten Sohn ’Abdu’l-Bahá (1844-1921) über. Er gilt den Bahá’í als der »Mittelpunkt des Bundes«, den Gott mit der Gemeinschaft geschlossen hat. Ihm folgte Shoghi Effendi (1897-1957) als »Hüter der Sache Gottes«. Das Amt des Hüters war als Erbamt bestimmt, indem der älteste Sohn des Hüters dessen Nachfolge hätte antreten müssen. Da Shoghi Effendi aber ohne Nachkommen blieb, erlosch das Hüteramt mit dem Tod des ersten Amtsinhabers.
1963 wurde das »Universale Haus der Gerechtigkeit« als nunmehr oberste Führungsinstanz errichtet. Es wird alle fünf Jahre gewählt (Frauen sind nicht wählbar) und setzt sich aus neun Mitgliedern zusammen. Seinen Sitz hat es in Haifa (Israel). Das UHG ist die oberste Legislativ- und Exekutivgewalt der Gemeinschaft. Es erlässt Gesetze, die nicht bereits im Kitáb-i-Aqdas, dem von Bahá’u’lláh offenbarten »Heiligsten Buch« der Bahá’í, enthalten sind. Wie die Bestimmungen des Kitáb-i-Aqdas gelten auch die Beschlüsse des UHG als unmittelbarer Ausfluss des göttlichen Willens und sind unfehlbar. Im Gegensatz zu den unveränderlichen Gesetzen des Kitáb-i-Aqdas sind jene des UHG aber modifizierbar und können von diesem bei Bedarf geändert oder wieder abgeschafft werden.
Nach Auffassung der Bahá’í ist das UHG aber mehr als nur das oberste Gremium ihrer Gemeinschaft; es ist zugleich auch jene Instanz, die in einem künftigen Bahá’í-Weltgemeinwesen (Theokratie) dazu bestimmt ist, die Weltherrschaft im Sinne einer Weltregierung auszuüben.
Shoghi Effendi, von 1921-1957 »Hüter« des Bahá’í-Glaubens, schrieb: »Seine [des Bahá’ismus] Bestätigung und Anerkennung als [universale] Staatsreligion muss folgen, welche ihrerseits den Weg frei macht für die Übernahme der mit dem Bahá’í-Staat verbundenen Rechte und Hoheitsrechte, welcher in eigener Machtvollkommenheit handelt ...« (Shoghi Effendi: Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1969, S. 27f). Und bei Abdu’l Bahá lesen wir: »Dieses Haus der Gerechtigkeit erlässt die Gesetze, und die Regierung führt sie durch« (’Abdu’l Bahá: Wille und Testament, Frankfurt/M. 1964, S. 28 ) .
Dem Universalen Haus der Gerechtigkeit nachgeordnet sind die »Nationalen Geistigen Räte«, welche die Belange innerhalb eines Staatsgebiets wahrnehmen. Der NGR wird jährlich gewählt und setzt sich aus neun Personen zusammen, wobei auch Frauen zugelassen sind. Seine Beschlüsse gelten ebenfalls als unfehlbar.
Auf lokaler Ebene bestehen die örtlichen »Geistigen Räte«, die ebenfalls jährlich gewählt werden. Auch ihre Beschlüsse gelten als unfehlbar.
Für alle gewählten Körperschaften gilt das Prinzip der Wahl, der Stimmenmehrheit und der Beratung. Insofern erfüllen sie die Grundsätze einer Demokratie. Das demokratische Prinzip erfährt durch das Unfehlbarkeitsprinzip allerdings eine wesentliche Einschränkung, indem bestehende Verordnungen, Bestimmungen oder Gesetze nicht angezweifelt oder kritisch hinterfragt werden dürfen. (Die Bestimmungen des Kitáb-i-Aqdas sind ohnehin unveränderlich und für alle Zeit verbindlich; daraus folgt, dass für die Bahá’í das weltliche [staatliche] Recht weder Quelle noch Vorbild sein kann und folglich nicht anerkannt wird. [Vgl. Udo Schaefer: Die Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, Heidelberg 1957, S. 78; Shoghi Effendi: Bahá’í Procedure, Wilmette 1942, p. 85]
Die Bahá’í bezeichnen ihre Organisation als »Verwaltungsordnung«, gegenüber der jeder Gläubige zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet ist. Wer gegen diese Ordnung verstößt, wird der »administrativen Rechte« beraubt oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, wobei jeder Verkehr mit dem Exkommunizierten – auch innerhalb der eigenen Familie – untersagt ist. Nach Udo Schaefer dient die Exkommunikation »der Reinerhaltung der Gemeinschaft der Gläubigen vor subversiven Elementen« (Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, S. 133).
Das Demokratieverständnis der Bahá’í lässt sich mit dem der westlichen Demokratien nicht vergleichen. Das Bahá’ítum ist in seinem Wesen eine Theokratie und vertritt den Grundsatz einer Gottesherrschaft, in der alle Gewalt von einer religiös legitimierten Rechtsordnung ausgeht.
»Die Verwaltungsordnung wird daher von den Bahá’í ... als jeder Verbesserung unfähig angesehen. Sie ist die wesensnotwendige, absolut richtige und darum zu allen Zeiten und an allen Orten allgemein verbindliche Rechtsgestalt der Gemeinde.« (Udo Schaefer, Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, S. 99)
Weiter schreibt Udo Schaefer: Die Gläubigen »haben keine Aktivrechte, aufgrund derer sie mitzubestimmen befugt sind, sondern kommen, gleichsam als Destinatäre in den Genuss der unfehlbaren Auslegung; sie haben hierin reine Objektfunktion.« (Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í, S. 103)
Und im Testament ’Abdu’l-Bahás lesen wir: »Niemandem ist das Recht gegeben, seine eigene Meinung herauszustellen oder seine persönlichen Überzeugungen auszudrücken. Alle müssen Führung suchen und sich dem Mittelpunkt der Sache und dem Haus der Gerechtigkeit zuwenden. Und wer sich woanders hinwendet, ist fürwahr in schmerzlichem Irrtum.« (’Abdu’l-Bahá, Wille und Testament, S. 38f)
== Quellen ==
Francesco Ficicchia: Der Bahá’ísmus – Weltreligion der Zukunft? Geschichte, Lehre und Organisation in kritischer Anfrage. Stuttgart 1981.
Udo Schaefer: Die Grundlagen der Verwaltungsordnung der Bahá’í. Diss., Heidelberg 1957.
www.bahai-kritik.ch
