(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass der Materialismus die Wahrheit ist, weil diese Weltanschauung erst seit ein paar hundert Jahren existiert und gerade dann ihren Siegeszug angetreten hat, als durch die Aufklärung das religiöse Denken mit etwas anderem ersetzt werden musste. Und dieses andere war dann eben das andere Extrem zu dem, was vorher da war. Also totale Gottgläubigkeit nach ganz genauen Vorschriften wurde ersetzt durch totalen Unglauben und die komplette Fixierung auf die wissenschaftliche Methode.
Das ist eine etwas verkuerzte Wiedergabe der Menschheitsgeschichte. Im Prinzip gab es solche materialistischen Einstellungen schon immer, was man auch an Zweigen der griechischen und auch der indischen Philosophie sieht. Religioesitaet galt bei so manchem Schriftsteller des fruehen roemischen Reichs als Aberglaube, ausgeloest durch uebermaessige Gefuehlsduselei. Nur, Gefuehle bieten halt einen direkteren Weg zur Einflussnahme auf Menschen als die Ratio, weshalb erstere irgendwann halt immer siegen.
(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Der Mensch neigt leider zu Extremen, das sieht man auch hier. C.G Jung hat es in etwa so formuliert, dass hier etwas ganz wesentliches aus dem menschlichen Leben entfernt wurde, von dem man früher noch genau wusste, wozu es gut war, heute aber nicht mehr weiß, was man damit anfangen sollte. Das führte dazu, dass die Menschen - genau wie von Nietzsche vorhergesagt - seit dem 20. Jahrhundert eben politischen Ideologien als Ersatzreligionen anhängen. Dort finden sie alles, was Religionen ausmacht, also Sinn, Zusammengehörigkeitsgefühl, eine Mission - aber eben ohne die metaphysische Komponente.
Na ja, es geht eigentlich bei Spiritualitaet, Religiositaet oder dem heutigen Populismus immer darum, irgendwelche Defizite auszufuellen, von denen man weiss, dass man so gut wie keine Chance hat, diese auf normale Weise zu fuellen. Wie gesagt, das ist rein gefuehlsgesteuert.
(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Das Resultat sieht man dann in den Echokammern der sozialen Medien, wo Menschen mit religiösem Eifer ihre politische Ideologie zelebrieren. Eigentlich suchen sie etwas ganz anderes, aber das gibt es heutzutage nicht mehr in der Form, wie es früher der Fall war.
Ja, sie suchen Selbstbestaetigung und Gluecksgefuehle.
(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Es kann aber durchaus sein, dass dies einfach ein notwendiger Entwicklungsschritt in der Geschichte der Menschheit ist.
Einer solchen Teleologie haenge ich nicht an und sehe fuer die auch keinerlei Existenzberechtigung.
(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Ich sehe die Notwendigkeit deshalb, weil ich mir sehr sicher bin, dass der Tod nicht das Ende unserer Existenz ist. Wer nur und ausschließlich materialistisch denkt, kann sich ja in keiner Weise auf die Möglichkeit einstellen und vorbereiten, dass es nach diesem Leben in irgendeiner Form weiter geht. Aber gerade das halte ich für sehr wichtig.
Auf etwas, ueber das man nichts weiss, kann man sich nicht vorbereiten, so sehr Du das auch moechtest. Dir bleibt auch nichts anderes uebrig als jedem anderen von uns: der Sprung ins Ungewisse. Nur, dass die Wahrscheinlichkeit halt sehr gross ist, dass Dein Bewusstsein das eh nicht uebersteht.
Was mich dazu bringt, dass Du auf meine Bemerkung zur Intuition nicht eingegangen bist: genau wie Reklov haengst Du dem Irrglauben an, dass eine "materialistische Weltsicht" ohne Intuition auskommt. Ganz im Gegenteil: auch Naturwissenschaft geht ohne Intuition ueberhaupt nicht. Nur, eine Sache lernt man als Naturwissenschaftler sehr schnell: da in der Naturwissenschaft Intuitionen andauernd auf ihre Richtigkeit ueberprueft werden, merkt man sehr schnell, dass man Intuition nicht vertrauen kann. Meistens liegt Intuition schlicht falsch. Diese Einsicht ist uebrigens fuer angehende Wissenschaftler, die dauernd irgendwelche liebgewonnenen Modelle entsorgen muessen, sehr schmerzhaft, und das muss man erst einmal verarbeiten.
(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Wenn ich diese Dinge beschreibe, gebe ich ja das wieder, was in Nahtoderfahrungen geschildert wurde. Die Leute stellen diese Zusammenhänge ja selber her, ich beschriebe nur, was sie erzählt haben. Natürlich ist hier schwierig zu unterscheiden, was tatsächlich so erlebt wurde und was eher retrospektive Interpretation ist. Dennoch halte ich diese Schilderungen für wertvoll, denn sie sind mit nichts anderem zu vergleichen. Es ist das beste, was wir haben, wenn es um die Frage geht, wie wohl der Übergang auf die andere Seite aussieht.
Wertvoll sind sie auch fuer Neurowissenschaftler, die sehen wollen, was unser Gehirn in Grenzsituationen tut, in denen es von Sinneswahrnehmungen, auf die es sich sonst verlaesst, weitgehend oder ganz abgeschnitten ist. Dieser Punkt steht ausser Frage. Was allerdings fraglich ist, ist, ob es sich hier um irgendeine andere Seite handelt, auf die man schaut. Die andere Seite ist wohl das Weltmodell im eigenen Hirn.
(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Ich kann dir hier nicht ganz folgen. Welche unzähligen anderen Möglichkeiten für unsere Rolle in diesem Universum meinst du?
Ich fange meist klein an, z.B. mit deistischen Vorstellungen: der Schoepfer als jemand, der zwar die Welt erschaffen hat, der sich aber um uns nicht weiter kuemmert. Vielleicht weiss er nicht mal um unsere Existenz. Vielleicht sind wir irgendein Experiment, das nach Beendigung entsorgt wird. Vielleicht sind wir das Ergebnis einer Hausaufgabe eines Schuelers in einem uebergeordneten "Universum", das einfach didaktischen Zwecken dient. Vielleicht ist das Universum ewig in seinen Zyklen, vielleicht ein denkendes Wesen, und wir sind so etwas wie Parasiten irgendwo in seinem "Koerper". Es nimmt uns nicht wahr, weil es gar nicht auf uns schaut, schon allein, weil sein Zeitgefuehl ein ganz anderes ist und ein menschliches Leben dort nur einen Bruchteil einer Sekunde ausmacht. Oder wir sind so etwas wie ein fluechtiger Gedanke, der sich regt und vergeht.
Das kann man stundenlang weiterspinnen. Ich sage nicht, dass irgendeine dieser Moeglichkeiten aus irgendeinem Grund so sein muss, sondern gebe schlicht zu Bedenken, dass es all diese Moeglichkeiten gibt, solange man nichts weiss.
(17-01-2025, 22:19)subdil schrieb: Zugegeben, dieses Sinnbild mit dem Suppenkochtopf war nicht gerade gut. Vielleich ist das besser: Ein reduktionistischer Denker gleicht in seinem Versuch, die Welt zu erklären einem Forscher, der die ganze Erde beschreiben will, dazu aber nur und ausschließlich einen Globus oder eine Landkarte benutzt. Die Landkarte kann sehr detailliert sein, von mir kann sie sich sogar zu einer sehr realistischen dreidimensionalen Simulation weiter entwickeln. Aber wirklich in der Landschaft unterwegs zu sein und die unterschiedlichen Beschaffenheiten von Wüsten, Meeren, Bergen, Städten etc. zu erleben, ist doch etwas ganz anderes und wirft ganz andere Probleme auf, führt aber auch zu ganz anderen Lösungen. Deshalb reden wir hier so oft aneinander vorbei.
Das Beispiel zeigt ja auch nur, dass Reduktionismus dazu dient, das Ganze zu verstehen. Er ist eine gedankliche Hilfe, um Einsicht in Mechanismen zu erhalten. Er laesst uns begreifen, wie das Ganze funktioniert. Aber schoen, es geht wieder um gefuehlsmaessiges Erleben bei Dir. Klar, das ist auch noetig, aber es beantwortet nur selten Fragen zum "Wie". Und natuerlich gilt auch fuer Dein Beispiel: Globen und Landkarten sind von Geologen und Vermessern erstellt worden, die dort waren, Steine geklopft haben, sich Notizen zu den Menschen, die sie getroffen haben, gemacht haben, etc. Der Blick auf den Globus laesst Dich dann Zusammenhaenge erkennen, die Dir sonst gar nicht bewusst geworden waeren. So "reduktionistisch" ist Dein Beispiel also auch mal wieder gar nicht.