(22-03-2022, 17:21)Thomas der Ungläubige schrieb: Was sollen denn auch die verschiedenen Skalen der drei Begriffe sein? Es wäre ja logisch zu sagen, dass sich Theismus und Atheismus auf der Glaubensskala bewegen und der Agnostizismus dagegen auf einer anderen Skala (Wissensskala?). Aber welcher Gegenbegriff soll dann die Ebene des Agnostizismus definieren?
Richtig, es ist eine andere Skala. Wie Du sagst, es ist die Wissensskala: entweder Du weisst etwas mit Sicherheit (das spielt oft in christlichen Glaubensbekenntnissen eine grosse Rolle; man findet das in vielen Predigten), oder Du weisst es halt nicht, bist also agnostisch. Ist Dir nicht aufgefallen, dass "a-gnostisch" das Gegenteil von "gnostisch" ist? Der Begriff "gnostisch" wird nur deshalb nicht benutzt, weil es da vor allem im Deutschen (im Englischen weniger) eine Begriffsverschiebung gegeben hat (die meisten Leute stellen sich darunter bestimmte juedische und christliche Bewegungen des fruehen ersten Jahrtausends vor), aber der Begriff bedeutend in der Tat "wissend".
Dass das heutzutage eine Minderheitenmeinung ist, ist schon richtig. Die etwas einfaeltige Alternative hat sich in Glaubensdiskussionen halt verbreitet, da diese durch Theisten dominiert ist, die unbedingt eine falsche Aequivalenz aufbauen und sich dabei nicht mit klaren gedanklichen Strukturen auseinandersetzen wollen. Die meisten Atheisten bezeichnen sich in oeffentlichen Diskussionen als Agnostiker, nicht weil sie diesen Ausdruck fuer relevant hielten, sondern um sich die sich an den Begriff "Atheist" meist anschliessenden, endlosen Diskussionen ueber den Begriff zu sparen. Dass auch ein Atheist nicht weiss, ob es einen Gott oder Goetter gibt, sollte eigentlich jedem klar sein. Was als irrelevant abgelehnt wird, ist die theistische Gottesvorstellung.
In dem Sinne ist der heute oft bemuehte Ausdruck "Agnostiker" in den meisten Faellen schlicht eine Art Schutzschild, um oeffentlich nicht erklaeren zu muessen, was man denkt; was in Glaubensfragen oft taktisch nicht unklug ist.
Ein Grossteil der Atheisten interessieren sich uebrigens schlicht nicht fuer Religion (manche Statistiken unterscheiden auch das in einen anderen Begriff). Der Bereich "Glaube" ist fuer sie kein Bereich, auf den es sich lohnen wuerde, irgendwelche Gedanken zu verschwenden.
(22-03-2022, 17:21)Thomas der Ungläubige schrieb: Aber bitte nicht persönlich nehmen, mir ist bewusst, dass ich kein ausgebildeter Geisteswissenschaftler bin. Ich lasse mich deshalb gerne eines Besseren belehren.
Das Problem ist ein erkenntnistheoretisches. Auf den ersten Blick koennte man ja meinen, dass die Fragen nach "Existenz" oder "Nichtexistenz" spiegelbildlich waeren, also aequivalent und prinzipiell mit den gleichen Mitteln zu loesen. Dem ist aber nicht so. Um "Existenz" nachzuweisen, reicht der Nachweis eines einzigen, positiven Beispiels, und damit ist der Beweis gelungen. Um "Nichtexistenz" nachzuweisen, muesste man jeden Winkel des Universums und darueber hinaus darauf abklopfen, ob ein solches einziges, positives Beispiel existiert, und das ist offensichtlich praktisch nicht machbar.
In dem Moment, wo die "atheistische" Position zwingend als "wissend" gesetzt wird, wie Theisten das gerne tun, wird versucht, Atheismus irgendwie als dumm darzustellen, aus dem eben genannten Grund. Um das machen zu koennen, wird halt die "Wissenskala" in die "Glaubensskala" integriert, mit dem einzigen Ziel, das Gegenueber runterzumachen. Die theistische Position kommt in solch einem Konstrukt aus dem erkenntnistheoretischen Grund, den ich genannt habe, automatisch besser weg; deshalb gibt es ja diese hunderte Versuche von Gottesbeweisen. Ein einziger reicht ja, um die eigene Position der Theisten zu "veredeln".
Als Wissenschaftler kann man da nur den Kopf schuetteln. Jeder wissenschaftlich Interessierte sollte eigentlich wissen, dass Aussagen ueber Beweise nie absolut gesetzt sind, ein gewisser Anteil von "Agnostizismus" also immer bleibt. So kommt man dann zu Reklovs Lieblingsthema.

