(21-11-2020, 20:44)Praytes schrieb: Ganz genau, Ulan! Wie du schon sagst: Wenn es einem egal ist, was der Bibeltext aussagt, kann man jede Interpretation in den Text hineinlesen, die einem gefällt, bzw., mit der man sein Selbstbild aufhübschen kann.
Eben. Das ist genau mein Vorwurf an Deine Art der Interpretation: Dir ist es letztlich egal, was da im Text steht. Den Text ernst genommen hat erst die historisch-kritische Methode. Sie vergewaltigt nicht den Inhalt der Texte durch ideologisch gefaerbte Verdrehungen dessen, was da eigentlich steht (von einzelnen Vertretern dieser Methode abgesehen; ja, die gibt es in Ausnahmefaellen auch).
(21-11-2020, 21:08)Praytes schrieb: Aber ganz ehrlich: Wenn wir uns jetzt erst um solche Definitionen kümmern müssen, können wir uns eine Diskussion auf jeden Fall "eher ersparen"
Nun, das ist doch aber der Knackpunkt: Deine Grundlage ist ein als wahr angenommener Grundsatz, weder begruendet noch abgeleitet. Es ist schlicht ein Glaubenskonstrukt
(21-11-2020, 21:08)Praytes schrieb:(20-11-2020, 23:33)Ulan schrieb: dass in die Interpretation hineingesteckt wird, dass die ganze Bibel das einheitliche Wort Gottes ist, was dann bestimmte methodische Folgen hat, die auf dieser Annahme gruenden.Die Gegenposition ist das genaue Gegenteil davon: dass in die Interpretation hineingesteckt wird, dass die ganze Bibel nicht das einheitliche Wort Gottes ist, was dann ebenfalls bestimmte methodische Folgen hat, die auf dieser Annahme gründen.
Und hier wird's eben genau falsch. Die Position, die Bibel sei das einheitliche Wort Gottes, ist eine Annahme, die zu Beginn einer Pruefung des Textes erst mal als unbewiesene Hypothese dasteht, die eine Pruefung, die diese Bezeichnung verdient, entweder beweisen oder widerlegen kann. Insofern stecke ich (oder die historisch-kritische Methode ganz allgemein) eben nicht die gegenteilige Annahme in den Text, sondern der Text wird so untersucht, wie jeder andere Text auch, ohne die Antwort auf diese zu untersuchende Frage in irgendeiner Form vorauszusetzen. Sollte sich in der Bibel das einheitliche Wort eines einzelnen Geistes finden lassen, kommt das aus solch einer Pruefung heraus.
Allerdings ist diese fuer Jahrhunderte anhaltende Untersuchung zu einem anderen Ergebnis gekommen: der Text stammt von vielen unterschiedlichen Autoren und traegt sodie unterschiedlichen Ideologien und religioesen Vorstellungen vieler unterschiedlicher Zeitraeume und Personen in sich. Das ist, wie gesagt, nicht, was hineingesteckt wird, sondern was bei einer Pruefung, die das Ergebnis nicht, wie Du, vorwegnimmt, herauskommt.
Das ist der philosophische Holzweg, auf dem sich Deine Argumentation bewegt. Das Fehlen einer angenommenen Grundlage ist nicht dasselbe wie das Annehmen des Gegenteils dieser Grundlage.
(21-11-2020, 21:08)Praytes schrieb: Über die Hintergründe und Motivationen, die zu diesen gegensätzlichen Positionen führen, können wir uns hier unterhalten.
Nun, biblische Hermeneutik, egal ob in ihrer katholischen oder ZJ-Auspraegung, mag ja als intellektuelle Spielerei durchaus anregend wirken, wenn man ein in sich geschlossenes Bild konstruieren will, das halt darauf verzichtet, seine Axiome als Hypothesen zu begreifen, die sich eigentlich ueberpruefen lassen. Aber das ist es halt, wo der Glaube injiziert wird. Nur sollte man sich dann halt nicht selbst ueber die Aussagekraft dieser intellektuellen Spielerei taeuschen. Im Endeffekt schaut man dann nur auf ein Kunstwerk, das einem sicherlich Freude machen kann; nur irgendeine praktische Bedeutung hat das dann letztlich nicht.
(21-11-2020, 21:08)Praytes schrieb: Solange sich solche Verständnis- und Kommunikationsschwierigkeiten schon in den Allgemeinplätzen ergeben, rate ich von jeder weiteren Konkretisierung dringend ab. Daraus entwickelt sich nur ein noch größeres Chaos, was dann niemand mehr wahrhaftig überblicken kann. Mir ist meine Zeit dafür zu schade.
Oh, ich wollte mich sicherlich nicht in Einzelbeispielen von Bibelstellen ergehen; da bekomme ich dann wieder irgendwelche Zitate aus Publikationen bestimmter Religionsgemeinschaften woertlich zitiert oder paraphrasiert (siehe wasweißich), was eh keine Diskussion ist. Egal ob RKK, Protestanten oder ZJ, die haben jeweils wahrscheinlich Kilometer solcher Versatzsstuecke produziert; man muss nur zugreifen. Mir ging's eher um die benutzten Grundlagen der Bibelinterpretation.
Um nur ein Beispiel herauszunehmen, hier in sehr verkuerzter Form:
1. Die RKK begruendet Glaubensgrundsaetze nicht nur aus der Bibel, sondern auch vor allem aus ihrer Tradition heraus. Da deshalb relativ egal ist, was in der Bibel drinsteht, gibt es auch keine Bevorzugung irgendeiner Uebersetzung, von der Stellung der Vulgata mal abgesehen, was aber keine praktischen Auswirkungen hat. Insofern sind katholische Bibeluebersetzungen oft sehr nah am Grundtext, zumindest die etwas neueren.
2. Bei Protestanten (hier verkuerze ich am meisten) fuehrt die "sola scriptura"-Ideologie dazu, dass alle Glaubensgrundsaetze in der Bibel gefunden werden muessen. Da aber auch protestantische Glaubensinhalte geschichtlich durch katholische Traditionen gepraegt sind, fuehrt das dazu, dass viele protestantische Bibeluebersetzungen diese Glaubensgrundsaetze in die Bibel hineinschreiben, auch wenn sie da nicht stehen. Die eklatantesten Auswuechse sind die Uebersetzungen, die die Widersprueche im Bibeltext (sie erkennen diese wenigstens) korrigieren und - manchmal zumindest - den eigentlichen Text in Fussnoten verbannen. Das schliesst nicht aus, dass es auch einige sehr gute Uebersetzungen gibt, aber die erfreuen sich wenig Beliebtheit.
3. Die ZJ z.B. haben diesen Traditionsbezug bewusst gekappt, und ihre Bibeluebersetzungen sind, was die Qualitaet angeht, aehnlich gut wie die neueren katholischen Uebersetzungen (mit der ausdruecklichen Ausnahme dieses Jehova-Fimmels, der die Macht von Traditionen selbst in relativ jungen Religionsgemeinschaften zeigt). Hier werden die Glaubensinhalte, die sich in der Bibel nur schwer nachvollziehen lassen, dann auf andere Art und Weise begruendet. Man muss ja nur mal ein paar Wachtturm- oder Erwachet-Ausgaben lesen, um sich die Verrenkungen anzusehen (oder halt online).