(13-08-2020, 01:01)Sinai schrieb: Das Urchristentum bis zum Apostelkonzil dürfte tatsächlich eine innerjüdische Sekte gewesen sein. Allerdings ist völlig unklar, was damals dem "Judentum" weitgehend entsprach - zumal das Judentum eine in sich zerstrittene Gemeinschaft war (Gegensatz Pharisäer - Sadduzäer)
Zerstrittene Gemeinschaft kann man so nicht sagen. Das Judentum hatte eine ausgemachte Streitkultur gepflegt. Das spätere Christentum hat das Judentum unsäglicherweise immer sehr vereinfacht, stereotyp dargestellt und ist ihm damit nie gerecht geworden. Wir Christen tragen seitdem dieses geschichtliche Erbe mit uns, unsere Glaubensinhalte kritisch zu hinterfragen. Denn es ist nicht nur anzunehmen, dass manche Übersetzungen und Deutungen aufgrund des Zeitgeistes und der Problematik der Übersetzung selbst verschrobenen Geistes sind, sondern kirchenpolitisch motiviert waren. Viele Irrtümer, die seit Marcion eingeflossen sind, tragen sich auch heute noch in den normalen Gemeinden.
Zitat: Das Judentum war zur Zeit Jesu nicht mehr greifbar. Die Pharisäer glaubten an die Auferstehung und die Sadduzäer glaubten nicht an die Auferstehung. Das waren doch eigentlich bereits zwei unterschiedliche Religionen
Es gab nicht DAS Judentum. Der Kanon war zur Zeit Jesu abgeschlossen. Die Debatten im Judentum drehten sich um die Frage, wie das schriftliche Tora auszulegen ist. Dieser ständige Prozess, die Frage, wie die schriftliche Tora zu lesen und zu aktualisieren ist, ist Teil des Judentums, "die stetige Weiterentwicklung solcher Auslegungen [ist] bis auf den heutigen Tag nicht zum Stillstand gekommen" (Trapp, Die Juden, S.18). Jesus war Teil der herzhaften Debattenkultur der Rabbinen um die Auslegung der schriftlichen Tora. Er vertrat Positionen der Pharisäer und stritt mit ihnen am liebsten, vermutlich weil er selbst zu ihnen gehörte. Pinchas Lapide schrieb mal ein Buch mit dem provokanten Titel "Jesus - ein gekreuzigter Pharisäer?".
Das Christentum ist die fortgeführte Denkrichtung dessen, wie der Rabbiner Jesus die Tora gedeutet hat. "In Erfüllung der Mitzwot wird er [der Gerechte - Anm. von mir] zur Verkörperung der Tora selbst." (ebd., S. 284) Jesus war für seine Schüler ein lebendiger Talmud. Über ihn haben sie die Tora gedeutet. Das ist, was es bedeutet durch Jesus das sog. "Alte Testament" zu lesen, und deswegen tut man als Christ gut daran, in den Juden die älteren Brüder zu sehen. Jesus ist nicht gekommen, "das Gesetz oder die Propheten aufzulösen" (Mt 5,17). Denn "wer nur eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich" (Mt 5,19). Für den gläubigen Juden Jesu war die Tora das unumstößliche Gesetz, nur die Frage, wie dieses Gesetz auszulegen ist, an diesen Debatten beteiligte sich Jesus. Wenn man das Neue Testament aus diesem Blickwinkel liest, kann man die Dialoge und Ansprachen darin ganz neu und erfrischend verstehen.
Das frühe Christentum war im Grunde die Diskussion um die Auslegung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gesetz. Was uns vom Judentum unterscheidet ist die Frage, ob der Messias nun schon da war oder noch kommen wird. In einer Fernsehdoku über das Judentum meinte ein Rabbi sinngemäß: "Es lohnt nicht darüber zu streiten. Wenn der Messias kommt wird er entweder sagen 'Hey schön Euch wieder zu sehen' oder 'Nice, endlich bin ich da', dann wissen wir es." Die Besonderheit ist, dass im Judentum eine stark nationale Komponente der eigenen Geschichte vorhanden ist. Dadurch können Nichtjuden nicht zum Judentum konvertieren (es gibt wenige Beispiele). Was also mit der missionarischen Jesus-Bewegung kam, war der Export von jüdischen Glaubensinhalten für Nichtchristen - das ist für mich der Bruch. Heutzutage gibt es viel Bemühen, die Missverständnisse zu beseitigen. Hier denke ich an das Buch "Von Abba bis Zorn Gottes - Irrtümer aufklären", an dem 33 jüdische und christliche Wissenschaftler mitgewirkt haben. Auch die heutige Bewegung der Noahiden kann viel dazu beitragen, dass wir besser verstehen, was Gesetz für uns Nichtjuden bedeutet.