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"Leben auf der Überholspur" - t.logemann - 31-01-2008 Leben auf der Überholspur "Wahre Werte erkennen wir erst, indem wir sie verlieren" Stanislaw Lem, polnischer Schriftsteller Von Günther Hörbst aus Hamburger Abendblatt 28./29. Oktober 2000 Die Affäre um die mutmaßliche Kokainsucht des Fußballtrainers Christoph Daum wirft Fragen über den Zustand unserer Gesellschaft auf. Etwa die: Sind die Anforderungen, die den Menschen heutzutage abverlangt werden, überhaupt noch zu leisten ohne Aufputschmittel? „Kokain ist der Treibstoff der New Economy", sagte der Hamburger Drogenexperte Günther Amendt, als er zum Fall Daum befragt wurde. „Die Droge ist da, wo in Hochgeschwindigkeit gearbeitet wird." Und das sei eben nicht nur die Fußball-Bundesliga. Amendt behauptet: 70 Prozent des Kokains auf dem deutschen Markt werde von Leuten der oberen Mittelschicht konsumiert. Der beinharte Wettkampf in den Konzernetagen treibt die Menschen in einen Kreislauf, der oft nur eine Wahl lässt: Kochput- schen oder abstürzen. Die Gesellschaft läuft Gefahr, aus den Fugen zu geraten. Praxen von Psychologen und Stress- therapeuten quellen jetzt schon über mit Menschen, die nicht mehr weiter wissen. Die Vereinten Nationen erklärten kürzlich, dass sich Stress zu einer „ Jahrhundert-Epidemie" entwickelt hat. In Deutschland ist er längst zum Massenphänomen geworden: Eine Umfrage ergab, dass sich ein Viertel der Bürger ausgebrannt fühlt, geistig leer, von Ängsten geplagt. Und dabei handelt es sich längst nicht mehr nur um jene Menschen, die unter dem. Arbeitsdruck in ihrer Firma physisch zusammenbrechen. Neben denjenigen, die durch den Erfolgs- und Zeitdruck im Job regelrecht „ausbrennen", gibt es auch solche, die sich jahrelang abstrampeln und sich plötzlich in einem geistigen Vakuum wiederfinden. Sie formulieren ein seltsames Unbehagen, eine undefinierbare Angst vor dem Leben. „Gesundheitlich und finanziell geht, es mir eigentlich gut. Doch etwas stimmt nicht", ist eine oft vorgetragene Klage. Sie ahnen, dass ihr Leben eine Wende braucht. Sie sind auf der Suche nach sich selbst. Der Lüneburger Existenzanalytiker und Theologe Uwe Böschemeyer hat viele solcher Menschen behandelt. In den vergangenen Jahren sind es aber ständig mehr geworden, die den Weg in sein „Institut für Existenzanalyse und Logotherapie" antraten. „Diese Menschen", sagt Böschemeyer, „haben das Problem der existenziellen Frustration." Er neigt seinen Kopf und streicht sich über den dichten, angegrauten Vollbart, der seinen ganzen Hals bewächst. „Viele Menschen wissen einfach nicht mehr, wozu sie da sind", spricht er bedächtig, ganz so, als spräche er mit einer dieser vielen ratlosen Seelen, die er Tag um Tag zu heilen sucht. „Das Leben ist zu vielfältig geworden, um es zu überschauen. Es überbeansprucht die Menschen. Diese Überbeanspruchung führt zu einem Verlust der Dimension der Tiefe." Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Wir leben in einer Zeit, in der eine ganze Gesellschaft hochgetaktet wurde wie ein Computer in einer dieser Start-Up-Firmen. Das Leben spielt sich überwiegend nur noch auf der Überholspur ab. Vor allem im Arbeitsleben. Dort wird der „flexible Mensch" verlangt, wie ihn der amerikanische Soziologe Richard Sennen treffend definiert hat: Im Ungewissen dahintreibend, von Tätigkeit zu Tätigkeit, von Ort zu Ort, immer im Fluss. Die radikale Flexibilisierung der Arbeit verlangt den Vorrang vor identitätsstiftender Kontinuität. Was für unseren materiellen Lebensstandard, für unseren Fortschritt segensreich ist, ist für unser Seelenheil jedoch im höchsten Maß bedrohlich. Das Immer-flexibel-Sein wird zum höchsten Wert erklärt. Wie soll man aber unter den Bedingungen dieser „Hopping-Kultur" die vielen Fragmente seines Lebens zu einer Identität zusammenfügen? Aber auch im eigentlich normalen Leben hetzen wir, als ob der Teufel hinter uns her ist. Wir schaffen uns täglich mehr Reize, mehr Bilder, mehr Konsum. Und weil wir das natürlich alles auch erleben wollen, geraten wir in Stress - Freizeitstress. Es gelingt uns nämlich nicht, alles zu erleben. Dazu ist das Angebot zu groß. Also erhöhen wir das Tempo nochmals. Und um ganz sicher zu gehen, erhöhen wir auch den Adrenalinspiegel, indem wir das Bestehende ins Extreme steigern. „Wir müssen uns einfach zwischen zu vielen Dingen entscheiden", sagt der Hamburger Sozial- pädagoge Erich Witte. Und an dieser Stelle beginnt die Spirale, die viele Menschen über kurz oder lang in die Frustration treibt. Wer sich zwischen vielem entscheiden muss, dem wird irgendwann klar, dass er wahnsinnig viel verpasst hat. „Und das hält man auf Dauer einfach nicht aus", sagt Witte. Die Hinwendung der Gesellschaft zu den Extremen hat der Freizeitforscher Horst W Opaschowski untersucht. Und er ortet die Gründe in der Sattheit, im Überdruss der Menschen. Es geht uns rein materiell gesehen so gut wie nie. Wir haben so viel Freizeit wie noch nie. Beides zusammen führt aber dazu, dass wir fast alles gesehen, erlebt und erfahren haben. Die Menschen fragen sich also: Was kann ich noch machen? Wo kann ich noch dabei sein? Opaschowski sagt: „Viele Menschen wissen nicht mehr, wofür sie kämpfen sollen, was ihre -Lebensziele sind. Sie haben Angst vor der Langeweile des Lebens." Und diese Angst treibt sie dazu, Halt in Extremen zu suchen. In einer Zeit, in der keine Werte mehr vermittelt werden, die den Menschen inneren Halt geben, versuchen viele, ihre innere Leere mit möglichst aufregenden Ablenkungen zu kompensieren. Sie suchen sich Ersatzbefriedigungen im Fernsehen, klettern auf Berge, kaufen sich Dinge, die „in" sind, stürzen sich am Gummiseil von Brücken. Die Erlebnisgesellschaft schafft sich so ihre „Kathedralen des 21. Jahrhunderts". „Die Menschen laufen dem hinterher, was die Quoten festlegen", resümiert Sozialpädagoge Witte. Und die Quoten, vor allem des Fernsehens, sprechen eine deutliche Sprache: Sie geben, was das Volk verlangt. Eine Entwicklung, die für Opaschowski schnurgerade zum „Extrem-TV" führt. Die Schlüsselloch-Gucker Show Big Brother sei verglichen mit dem, was noch kommen werde, harmlos. In Großbritannien läuft demnächst eine Reality-Sendung in der die Mitspieler aus einem Ge- fängnis ausbrechen können. Wer es als Erster schafft, gewinnt 320 000 Mark. Wie fortgeschritten die Entwicklung bereits ist, zeigt die Larry-King-Show in den USA. Im Sommer wurde über einen Todeskandidaten berichtet. Vor einer Werbeunterbrechung kam die Einblendung: „Die Exekution noch in dieser Sendung. Bleiben Sie dran." In einigen Jahren soll es eine Sendung geben, in der Menschen auf den Mount Everest steigen - der letzte Kick für die ziellos Dahintreibenden. Dieser Berg ist selbst für Profikletterer ein todesmutiges Wagnis. Opaschowski düster: „Uns geht das Mittelmaß verloren und letztlich damit das Augenmaß. Es ist aber leider niemand da, der wieder Grenzen setzt." Die verlorenen Grenzen für das, was wertebildend ist, sind ein Schlüssel dafür, dem undefinierten Unbehagen auf die Spur zu kommen. Denn die Werte-Problematik ist ein entscheidender Grund für die vielen orientierungslosen Opfer der Turbo-Gesellschaft. Uwe Böschemeyer diagnostiziert bei seinen Klienten in der Regel eine mangelnde Balance zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. „Die vielen Außenreize überlagern das, was uns eigentlich im Inneren ausmacht", sagt der Vertreter der Lehren des Wiener Psychologen Viktor Frankl. Die Menschen wissen nicht mehr, was sie sind. Statt darauf zu achten, was die inneren Bilder ihnen sagen, hetzen sie durch die Zeit, um ihre Frustration und ihre innere Ödnis zu kompensieren. In den Gesprächen mit seinen Klienten gelingt es Böschemeyer, deren innere Werte herauszuar- beiten. Die Ergebnisse laufen den allgemein gültigen Anforderungen des Lebens völlig zuwider. „Wir stellten fest, dass die Leute Scheitern zulassen wollen, dass sie das Warten als Schritt aus der Krise verstehen. Sie wollen Grenzen haben und diese auch akzeptieren. Und sie wollen Brücken bauen zu anderen Menschen, langfristige Beziehungen eingehen." Wer sich seiner inneren Vorstellung von dem, was das Leben für ihn lebenswert macht, wieder bewusst werde, werde auch wieder den Halt finden, den er suche. In der Wirklichkeit vermittelt uns unsere Umgebung aber andere Werte. Für Erich Witte haben diejenigen, die Werte setzen könnten - Intellektuelle, Politiker - auf ganzer Linie versagt. „Von Politikern darf man gar nichts erwarten. Die reiten nur auf der Stimmungswelle der Bevölkerung." Die Kirche? Da winkt der ehemalige Theologe Böschemeyer ab: „Sie ist derzeit zu diskreditiert. Wenn sie etwas sagt, wird sowieso gleich abgewunken." Was ist also noch da an Werten? Was wird uns vermittelt? „Was wir noch haben, ist der absolute Bodensatz ", sagt Sozialpädagoge Witte. Das, was vermit- telt wird, ist traurig. Deutschlands populärste TV-Show - Big Brother - vermittelt, dass es cool und nachahmenswert ist, eine Gruppe von Menschen auszuspionieren. Ob die Container-Bewohner sich freiwillig ausspähen lassen, tut dabei nichts zur Sache. Es geht um die Aussage, und die heißt: Die Schlüsselloch-Perspektive ist nichts Unanständiges mehr. Wo führt uns das hin? Werden traditionelle Wertvorstellungen kurzerhand über Bord geworfen? Trifft die Feststellung von Richard Sennett zu, der als Folge der unbarmherzigen Flexibilisierung der Menschen ein „Zerfressen des Charakters" prophezeit? Auf all diese Fragen gibt es keine endgültigen Antworten. Einig sind sich viele Experten darin, dass wir künftig eine Gesellschaft haben werden, die noch hyperaktiver wird und ein Angebot braucht, das noch flacher ist. „Wir gehen kaputt, wenn alles so bleibt", sagt Uwe Böschemeyer düster. Allerdings ist er sicher, dass sich die Menschen gegen die Sinnentleerung ihres Lebens wehren werden. „In zehn Jahren wird es Bürgerinitiativen geben, die Werte einklagen werden, die die Wahrnehmung der Umwelt schärfen werden", lautet seine Prognose. Denn Werte, so sagte es einmal ein kluger Mann, „sind dynamische Größen, Brenngläsern gleich, die die Lebenskraft bündeln". Dass die Menschen so durch die Zeit hetzten, habe schlicht und einfach damit zu tun, „dass sie in der Zeit nicht leben können". Es komme also letztlich darauf an, sich über Werte wieder selbst zu entdecken. Hamburg, 12.06.03 E:\Winword2\bastu\Leben auf der Überholspur.doc Seite: 1 von 3 Meinungen hierzu....???? RE: "Leben auf der Überholspur" - Gerhard - 03-02-2008 Hallo Thomas! So denke ich, hat zumindest jeder Mensch selbst die Entscheidung, wie sie/er ihren/seinen Urlaub gestaltet, auch wenn das möglicherweise Eigeninitative und möglicherweise Denken in anderen Bahnen verlangt. Im Arbeitsleben selbst ist das wohl weniger beeinflußbar. Gruß Gerhard RE: "Leben auf der Überholspur" - t.logemann - 03-02-2008 Tja Gerhard, das ist ja das Problem.... Im Arbeits/Erwerbsleben drehen wir uns mit einer immer schneller drehenden Spirale - auf den Untergang zu. Vor 5 Jahren noch haben wir mit Entsetzen nach New-York geschaut - wo Menschen 4 Jobs am Tag machen, um über die Runden zu kommen . Und heute - gibt`s das auch bei uns.... Nach Canabis, Heroin und Kokain ist jetzt Alkohol die Modedroge (vor allem bei Jugendlichen); wie bei allen anderen Drogen auch doktert man an den Symtomen herum, geht den Ursachen für Sucht und Suchtverhalten aber tunlichst aus`m Weg. Und Süchte gibt`s in der "modernen" Gesellschaft `ne ganze Menge....Spielsucht, Betäubungsmittelsucht, Alkoholsucht, FastFoodsucht, Magersucht,Profitsucht, Sexsucht... Sucht hat wohl auch ein bischen was mit "suchen" zutun; man sucht etwas..... Moral und Ethik sind "beim Teufel"; zu oft wurde mit dem Begriff Moral die Freiheit weggeschlossen, zuoft wurde Ethik für Gruppen und Klassen missbraucht. Der aufgeklärte Humanismus schläft, und mit ihm schlafen die Religionen.... Werte zählen nur noch materiell.... und nirgends ist Lösung in Sicht: "Der Steuermann schläft, der Kapitän ist betrunken....volle Kraft voraus mit dem sinkenden Schiff - auf`s Riff"....(aus einem nicht so bekannten Lied von Reinhard May).... RE: "Leben auf der Überholspur" - Moski - 04-02-2008 t.logemann schrieb:Im Arbeits/Erwerbsleben drehen wir uns mit einer immer schneller drehenden Spirale - auf den Untergang zu. Könnte es sein, dass du einfach nur alt wirst? :cheesygrin: Grüße Moski RE: "Leben auf der Überholspur" - t.logemann - 04-02-2008 ..."werden" ist gut..... ich war ja schon traurig, wie die Dinosaurier augestorben sind... nemanden mehr zum spielen..... Aber: werd`Du mal so alt - wie ich schon lange aussehe - dann stellst auch fest, das wir auf`m Narrenschiff leben das seinem Untergang mit voller Kraft entgegensteuert... RE: "Leben auf der Überholspur" - Moski - 04-02-2008 Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere heutige Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen Das kommt nicht von mir ... könnte aber von dir stammen ... wenn es denn nicht von Hesiod (ca. 720 v. Chr.) käme ... Grüße Moski RE: "Leben auf der Überholspur" - Gerhard - 04-02-2008 t.logemann schrieb:Tja Gerhard, das ist ja das Problem.... Nein, Thomas, so schwarz sehe ich da gar nicht. Schließlich passen sich auch die Länder mit den geringeren Grundeinkommen an uns an. t.logemann schrieb:das wir auf`m Narrenschiff leben das seinem Untergang mit voller Kraft entgegensteuert... Die Narrenschiffe sind eben beim Rosenmontagszug alle an uns vorbeigefahren. Bekanntermaßen ist ja am Aschermittwoch alles vorbei. Trotzdem geht es immer wieder weiter. Gruß Gerhard RE: "Leben auf der Überholspur" - t.logemann - 04-02-2008 Unsere "Berliner" Narrenschiffe - fahren nicht so schnell an uns vorbei.... die haben Station im Bundestag gemacht; und da fühlen die sich richtig wohl.... Tja Moski, das "Unbekannte" (der Zukunft) birgt immer auch Gefahren, eben weil`s unbekannt ist... Aber ich gehe hier garnicht mal so sehr auf die "Jugend" heraus - die werden ihre Wege schon finden - sondern eher auf die Lebensumstände, denen Alte wie Junge in der Zukunft ausgesetzt werden... Und, Gerhard, da seh`ich mehr als schwarz.... RE: "Leben auf der Überholspur" - Gerhard - 04-02-2008 Aber Thomas Du scheinst die anderen Narrenschiffe zum Beispiel ein größeres in Brüssel bzw Straßbourg, aber auch die ähnlich großen in Warschau, Prag, Paris, London, Helsinki, Riga usw zu vergessen, die mit von Bedeutung sind, auch in dem anderen Thema über das z.Zt. über das bedingungslose Grundeinkommen hinausgeht? Gruß Gerhard RE: "Leben auf der Überholspur" - t.logemann - 05-02-2008 Unser Narrenschiff, lieber Gerhard, nennt sich "Welt" und Moskau, Warschau, Nairobi und Brüssel sind da auch "nur" Kabinen (wie Berlin).... |