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Jesus Tempelvergleich : Beispiel für verklärte Sprache
#16
Ich denke, dass es ein Unterschied ist ob diese Frage "theologisch" oder "bibelgeschichtlich" betrachtet wird. Da es meines Wissens inzw. Historiker gibt, welche nicht Wort für Wort an der Semantik von Bibeltexten kleben sind alternative Sichtweisen heute durchaus legitim.

Allerdings !!! - jede Hypothese steht und fällt mit ihrer Begründung. Das sollte man bei wissenschaftlichen Betrachtungen zwingend beachten. Meine Ausführungen sind nur eine persönliche Aussage auf Grund bestimmter Rückschlüße. Deshalb müssen diese aber nicht zwangsläufig falsch sein.
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#17
(28-02-2018, 13:02)Kreutzberg schrieb: Ich denke, dass es ein Unterschied ist ob diese Frage "theologisch" oder "bibelgeschichtlich" betrachtet wird. Da es meines Wissens inzw. Historiker gibt, welche nicht Wort für Wort an der Semantik von Bibeltexten kleben sind alternative Sichtweisen heute durchaus legitim.

Allerdings !!! - jede Hypothese steht und fällt mit ihrer Begründung. Das sollte man bei wissenschaftlichen Betrachtungen zwingend beachten. Meine Ausführungen sind nur eine persönliche Aussage auf Grund bestimmter Rückschlüße. Deshalb müssen diese aber nicht zwangsläufig falsch sein.

Meine Bedenken würden auch für jede andere historische oder literarische Quelle gelten und haben nichts Spezifisches mit der Bibel zu tun. Genau darauf zielt doch meine Anfrage, (die ich aber genauer hätte fassen müssen.)

Während ich damit einig gehen kann, dass man als Historiker den Wahrheitsgehalt einer positiven Quellenaussage bestreiten kann (Quelle gibt an, dass Person X dieses oder jenes getan bzw. gesagt hat → Historiker zweifelt daran), halte ich nur das Gegenteil (negative Behauptung) für nicht vertretbar (Quelle gibt an, dass X dieses oder jenes NICHT getan bzw. gesagt hat → Historiker ist überzeugt, dass Person X dies doch gesagt oder getan hat).

Vorliegend ist die Aussage der Quelle (Markusevangelium), dass etwas ein „falsches Zeugnis“ ist. Woher nehme ich als Historiker auch nur ein hinreichendes Argument, dass entgegen der Quelle es sich um ein wahres Zeugnis handelt? Zunächst müsste man davon überzeugt sein, dass die Aussagen der Quelle in den ersten Punkten wahr sind.

Aussagen der Quelle
1. Es hat einen Prozess gegen Jesus vor dem Hohen Rat gegeben - WAHR
2. Im Rahmen dieses Prozesses wurden Zeugen gehört - WAHR
3. Zeugen behaupteten, dass Jesus eine spezielle Äußerung getan hat - WAHR (dass Zeugen das behaupteten - nicht die Behauptung der Zeugen selbst)

Weiterhin muss man davon überzeugt sein, dass die Aussage der Quelle im vierten Punkt unwahr ist.

Aussage der Quelle
4. Bei den Zeugenaussagen handelte es sich um Falschaussagen - UNWAHR

Schließlich muss man aber zusätzlich davon überzeugt sein, dass die von der Quelle im dritten Punkt genannten Zeugen die Wahrheit sagten.

ohne Quelle
Behauptung der Zeugen in Punkt 3. ist WAHR

Woher nehme ich das als Historiker (oder auch als Laie), wenn ich keinerlei andere Quellen zur Verfügung habe? Wie komme ich überhaupt zur Einschätzung, dass die Quelle in den ersten Punkten wahre Angaben macht und im vierten eine unwahre?
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#18
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang die Variante Joh 2,19 und ihre theologische Auflösung Joh 2,21.

Wenn man dem Thomasevangelium zugesteht, älter als die vier kanonischen Evangelientexte zu sein, mag auch das Logion 71 von Interesse sein:

"Jesus spricht: 'Ich werde [dieses] Haus [zerstören] und niemand wird es aufbauen können [außer mir].'"
MfG B.
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#19
(28-02-2018, 23:47)Bion schrieb: Anzumerken ist in diesem Zusammenhang die Variante Joh 2,19 und ihre theologische Auflösung Joh 2,21.

Wenn man dem Thomasevangelium zugesteht, älter als die vier kanonischen Evangelientexte zu sein, mag auch das Logion 71 von Interesse sein:

"Jesus spricht: 'Ich werde [dieses] Haus [zerstören] und niemand wird es aufbauen können [außer mir].'"

Danke für den Hinweis Bion.

Da mich die Sache interessiert, habe ich mal weiter gegraben. Mein Eindruck ist, dass die einzigen Wissenschaftler, die Gründe für Ihre Annahme anführen, Quellentheoretiker sind.

Das Logion 71 des Thomasevangeliums hilft möglicherweise allein nicht weiter, auch wenn man annimmt, dass es älter als die kanonischen Evangelien ist. Der Grund dafür ist, dass dort von einem „Haus“ und nicht vom „Tempel“ gesprochen wird und die Meinungen darüber, was unter „Haus“ im Logion 71 zu verstehen ist, weit auseinander gehen. Ich habe keine tiefgründige Auswertung der Literatur vorgenommen, aber auf den ersten Blick schien mir, dass gerade die Mehrheit der Wissenschaftler, die sich für das Thomasevangelium an sich interessieren, nicht der Meinung ist, dass es sich bei „Haus“ um den Jerusalemer Tempel handelt. Das dürfte wohl im Kontext des Thomasevangeliums wenig überraschen. Meist wird davon ausgegangenen, dass „Haus“ im Logion 71 eine Metapher ist, die für die „Welt“ oder „Materie“, das „Ego“, den „Körper“ oder vom Thomasevangelium abweichende Lehrmeinungen etc. stehen könnte. Hingegen gehen vor allem Wissenschaftler, die sich mit dem Thomasevangelium nur als Nebenquelle zu den kanonischen Evangelien beschäftigen, davon aus, dass es sich gleichwohl um den Tempel handelt. (Wen wundert's?)

Bion wollte gewiss auch andeuten (?), dass der Fall aus der Sicht von Quellentheorien möglicherweise in ein anderes Licht rückt.

Wenn man – wie viele Quellentheoretiker - annimmt, dass die Reden und Sprüche von Jesus als solche mündlich überliefert (und zwar unabhängig von ihrem ursprünglichen Kontext), alsdann im Zuge der Überlieferung abgeändert, umgeformt und in neue Zusammenhänge gestellt und schließlich in den Evangelien neu verarbeitet wurden, fällt folgendes auf.

Es gibt fünf Stellen (wenn man die Matthäusparallelen zu Markus nicht gesondert zählt), die im sachlichen Zusammenhang zu stehen scheinen.

Zitat:Markus 14:57 Und einige standen auf und gaben falsches Zeugnis gegen ihn und sprachen: 58 Wir haben gehört, dass er gesagt hat: Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen andern bauen, der nicht mit Händen gemacht ist.
Markus 15:29 Und die vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Ha, der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, 30 hilf dir nun selber und steig herab vom Kreuz!
Johannes 2:18 Da antworteten nun die Juden und sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies tun darfst? 19 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten. 20 Da sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? 21 Er aber redete von dem Tempel seines Leibes.
Apostelgeschichte 6:12 Und sie brachten das Volk und die Ältesten und die Schriftgelehrten auf, traten herzu und ergriffen ihn [Stephanus] und führten ihn vor den Hohen Rat 13 und stellten falsche Zeugen auf, die sprachen: Dieser Mensch hört nicht auf, zu reden gegen diese heilige Stätte und das Gesetz. 14 Denn wir haben ihn sagen hören: Dieser Jesus von Nazareth wird diese Stätte zerstören und die Ordnungen ändern, die uns Mose gegeben hat.
Thomasevangelium 71 Jesus sagte: Ich werde dieses Haus zerstören und niemand wird in der Lage sein, es wieder aufzubauen.

Viele Quellentheoretiker nehmen nunmehr an, dass alle diese – wenngleich im Detail unterschiedlichen – Sprüche auf einen echten Spruch des historischen Jesus zurückgehen, der im Zuge der mündlichen und schriftlichen Überlieferung mehrfach umgeformt und in neue Kontexte gestellt wurde. Der Ur-Spruch habe Markus 14:58 zumindest geähnelt, sei aber auch für frühe Christen zu anstößig gewesen, so dass einerseits Markus, Matthäus und die Apostelgeschichte ihn „falschen Zeugen“ untergeschoben und andererseits Johannes und Thomas ihn metaphorisch gedeutet hätten (sofern Thomas mit "Haus" etwas anderes als den Tempel meinte).

(Mir wird häufig etwas wuschig im Kopf, wenn ich versuche, solche Theorien/Mutmaßungen zu verstehen. Icon_cheesygrin )
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#20
Ich setze mal voraus, dass die Tradition, aus der das ThomEv erwuchs, zeitlich vor dem Entstehen der kanonischen Evangelientexte zu verorten ist. Wäre das nicht so, erübrigten sich weitere Überlegungen zum Logion 71. Einen kurzen Überblick das Thomasevangelium betreffend habe ich HIER (klick!) gegeben.

(02-03-2018, 23:20)Kunigunde Kreuzerin schrieb: .., dass dort von einem „Haus“ und nicht vom „Tempel“ gesprochen wird und die Meinungen darüber, was unter „Haus“ im Logion 71 zu verstehen ist, weit auseinander gehen.

So ist es.

Stephen J. Patterson hält es beispielsweise für möglich, dass mit Logion 71 auf den Untergang des Hauses Herodes Bezug genommen wird.

Dieser Gedanke lässt sich insbesondere dann nachvollziehen, wenn von der den Satz beschließenden Ergänzung [außer mir], die mit Blick auf die entsprechenden kanonischen Textstellen recht willkürlich vorgenommen wurde, abgesehen wird.

Eingewandt könnte allerdings werden, dass die Bezeichnung des Jerusalemer Tempels als "Haus" biblisch nicht ungeläufig ist.

Beispiel:
Joh 2,16: καὶ τοῖς τὰς περιστερὰς πωλοῦσιν εἶπεν· ἄρατε ταῦτα ἐντεῦθεν, μὴ ποιεῖτε τὸν οἶκον τοῦ πατρός μου οἶκον ἐμπορίου.

(02-03-2018, 23:20)Kunigunde Kreuzerin schrieb: Bion wollte gewiss auch andeuten (?), dass der Fall aus der Sicht von Quellentheorien möglicherweise in ein anderes Licht rückt.

Jedenfalls bietet sich die Überlegung durchaus an, dass das biblisch mehrfach bezeugte Tempelwort Jesu mit Logion 71 in Beziehung stehen könnte. Am stärksten wohl dort, wo es als direktes Herrenwort (Joh 2,19) vorliegt.

(02-03-2018, 23:20)Kunigunde Kreuzerin schrieb: Viele Quellentheoretiker nehmen nunmehr an, dass alle diese – wenngleich im Detail unterschiedlichen – Sprüche auf einen echten Spruch des historischen Jesus zurückgehen, der im Zuge der mündlichen und schriftlichen Überlieferung mehrfach umgeformt und in neue Kontexte gestellt wurde. Der Ur-Spruch habe Markus 14:58 zumindest geähnelt, sei aber auch für frühe Christen zu anstößig gewesen, so dass einerseits Markus, Matthäus und die Apostelgeschichte ihn „falschen Zeugen“ untergeschoben und andererseits Johannes und Thomas ihn metaphorisch gedeutet hätten (sofern Thomas mit "Haus" etwas anderes als den Tempel meinte).

Ich halte nicht nur den Prozess betreffende Details (so auch die Sache mit den falschen Zeugen), sondern die gesamte Prozessgeschichte für konstruiert.
MfG B.
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#21
(03-03-2018, 18:55)Bion schrieb: Ich halte nicht nur den Prozess betreffende Details (so auch die Sache mit den falschen Zeugen), sondern die gesamte Prozessgeschichte für konstruiert.

Eben, wie Ekkard und ich es auch sagten: eine literarische Konstruktion. Eusa_liar Tard *http://iphone-tricks.de/files/2017/03/kotz-smiley-emoji-update-min.jpg
Viele Grüße
Rudi
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#22
(03-03-2018, 18:55)Bion schrieb: ...
Ich bin wirklich dankbar, dass Du hier in die Diskussion mit eingestiegen bist, weil ich glaube, dass Du von Quellentheorien mehr versteht.

Ich habe mittlerweile mal versucht, mir einen oberflächlichen Überblick über die aktuelle Diskussion zu verschaffen, so aus den letzten 20 Jahren. Ich bin nicht ganz sicher, aber mein Eindruck ist, dass offenbar die Mehrheit der Neutestamentler der Ansicht ist, dass ein Tempelwort, das Markus 14:58 entspricht oder ähnelt, tatsächlich vom historischen Jesus stammt. Innerhalb dieser Gruppe bestehen gleichwohl Meinungsverschiedenheiten, wie der Spruch genau lautete und wie und warum er überliefert wurde. Daneben existieren noch alle möglichen Auffassungen, von wem der Spruch stammen könnte bzw. eingefügt wurde.



(03-03-2018, 18:55)Bion schrieb: Jedenfalls bietet sich die Überlegung durchaus an, dass das biblisch mehrfach bezeugte Tempelwort Jesu mit Logion 71 in Beziehung stehen könnte. Am stärksten wohl dort, wo es als direktes Herrenwort (Joh 2,19) vorliegt.
Das steht für mich ebenfalls außer Frage. Dass die Logien in einer Abhängigkeit zueinander stehen, kann wohl schwerlich geleugnet werden. Auf das johanneischer Herrenwort bezieht sich auch Jostein Ådna in „Jesu Stellung zum Tempel“, der es gegen die "falschen Zeugen" in Markus ausspielt. Ich finde seine Argumentation aber nicht korrekt, weil sie meines Erachtens die tatsächliche Quellenlage verwischt. Fakt ist doch, dass wir DAS „Tempelwort“ nur im Munde von falschen Zeugen haben (Mk, Mt, Apg). Wo wir ein – zweifellos damit verwandtes – Tempelwort im Munde von Jesus haben, ist es aber nicht DAS Tempelwort (Johannes) bzw. nicht sicher, ob es sich überhaupt um ein Tempelwort handelt (Thomas). Dies bedeutet doch, dass der Beweis (Quelle) für die Behauptung (historisches Tempellogion) gar nicht existiert, sondern erst unter Zuhilfenahme von Quellentheorien konstruiert werden muss.


(03-03-2018, 18:55)Bion schrieb: Ich setze mal voraus, dass die Tradition, aus der das ThomEv erwuchs, zeitlich vor dem Entstehen der kanonischen Evangelientexte zu verorten ist. Wäre das nicht so, erübrigten sich weitere Überlegungen zum Logion 71. Einen kurzen Überblick das Thomasevangelium betreffend habe ich HIER (klick!) gegeben.
...
Dieser Gedanke lässt sich insbesondere dann nachvollziehen, wenn von der den Satz beschließenden Ergänzung [außer mir], die mit Blick auf die entsprechenden kanonischen Textstellen recht willkürlich vorgenommen wurde, abgesehen wird.

Ich sehe es auch so, dass für die Annahme eines historischen Tempellogions eine Priorität des Thomasevangeliums äußerst günstig wäre. Einerseits wäre hierdurch belegt, dass ein Tempelwort tatsächlich unabhängig von den kanonischen Evangelien und ihren Kontexten überliefert wurde und andererseits hätte man es als Herrenwort im Munde von Jesus. Dagegen wären die Folgeprobleme (die Frage, ob im Thomasevangelium überhaupt der Tempel gemeint ist, und die übrigen Unterschiede zu Markus 14:58) erst einmal von weniger großer Relevanz. Dass die Bedeutung „Tempel“ eine der in Betracht kommenden Möglichkeiten für die Wortwahl „Haus“ ist, steht auch für mich außer Frage.

Ich verstehe nicht hundertprozentig, warum Du so auf dem Satzschluss „außer mir“ insistierst. Soweit ich mittlerweile weiß, ist das koptische Manuskript, welches Logion 71 enthält, an dieser Stelle beschädigt und der Satzschluss „außer mir“ ist nur eine ungesicherte Rekonstruktion. Irre ich mich da? (siehe letzte Zeile unterm Link)
*http://www.gnosis.org/naghamm/GTh-pages/th_scan/14.jpg

Mir scheint, dass an dieser Stelle dann aber das weniger große, aber immer noch erhebliche Problem auftaucht, nämlich wie ich vom gesicherten Textbestand von Logion 71 wieder zum Markusspruch zurückkomme. Letztendlich, um mal sinnbildlich zu sprechen, borgt sich die herrschende Meinung doch beim Thomasevangelium nur die Struktur, um sie mit dem Inhalt von Markus wieder aufzufüllen, wodurch das Problem der falschen Zeugen aufgehoben ist, was auf den ersten Blick wie ein aalglatter Zirkelschluss aussieht.
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#23
(05-03-2018, 00:13)Kunigunde Kreuzerin schrieb: Ich verstehe nicht hundertprozentig, warum Du so auf dem Satzschluss „außer mir“ insistierst. Soweit ich mittlerweile weiß, ist das koptische Manuskript, welches Logion 71 enthält, an dieser Stelle beschädigt und der Satzschluss „außer mir“ ist nur eine ungesicherte Rekonstruktion. Irre ich mich da? (siehe letzte Zeile unterm Link)
*http://www.gnosis.org/naghamm/GTh-pages/th_scan/14.jpg

Tut Bion doch gar nicht? Er bezeichnete die Deutung als "ausser mir" als "recht willkürlich vorgenommen".

(05-03-2018, 00:13)Kunigunde Kreuzerin schrieb: Mir scheint, dass an dieser Stelle dann aber das weniger große, aber immer noch erhebliche Problem auftaucht, nämlich wie ich vom gesicherten Textbestand von Logion 71 wieder zum Markusspruch zurückkomme. Letztendlich, um mal sinnbildlich zu sprechen, borgt sich die herrschende Meinung doch beim Thomasevangelium nur die Struktur, um sie mit dem Inhalt von Markus wieder aufzufüllen, wodurch das Problem der falschen Zeugen aufgehoben ist, was auf den ersten Blick wie ein aalglatter Zirkelschluss aussieht.

Da es in diesem Gebiet schlicht an eindeutigem Material mangelt, bleiben die meisten texthistorischen Rekonstruktionen auf diesem Niveau. Es bleibt gar nichts anderes uebrig als die Puzzle-Stuecke so lange herumzuschieben, bis man sie in einem Bild hat, von dem man meint, dass es passt. Eine Sicherheit, dass die Interpretation nicht trotzdem falsch ist, auch wenn man zufaelligerweise alle Praemissen korrekt gewaehlt hat, ist nicht gegeben. Die Praemissen sind natuerlich hier auch nicht gesichert.

Der Zirkelschluss ist dann gegeben, wenn man die Annahme, das Thomas-Evangelium sei aelter als das Markus-Evangelium, durch die Interpretation der Textentwicklung als gesichert annehmen wuerde. Das tut aber zumindest hier im Moment gerade keiner.
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#24
Danke für die ausführlichen Positionen zu dieser Thematik, welche auch ein grundsätzliches Problem im Umgang mit der modernen Bibelforschung aufzeigt. Es ist natürlich hier auch besonders schwer, weil meines Wissens keine römischen Chroniken jemals ein derartiges Zitat auch dokumentiert haben. Das wäre zur Glaubhaftmachung sicherlich sehr hilfreich gewesen.

Es ist zu vermuten, dass die Pharisäer auch keine chronischen Zeugnisse gesammelt haben : bspw. eine Liste mit Aussagen welche in Verdacht stehen gotteslästerlich zu sein. Wenn hierzu jemand was sagen kann : nur zu. Das ist sicherlich ein relativ unbekanntes Kapitel in der bisherigen Bibelhistorie. Es gibt m. E. zu wenige aussagefähige externe zeitgenössige Quellen, welche man hier heranziehen kann.

Da Bibelprediger in der Exegese jedoch anführen Jesus wurde missverstanden darf man durchaus auch ergänzend anführen, dass er möglicherweise bei dieser Aussage falsch zitiert wurde. Alles weitere ist leider nur Kaffeesatzleserei, wegen fehlender Faktenlage - schade aber leider wahr !!!
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#25
Roemische Chroniken haben gar nichts ueber Jesus dokumentiert, also auch keine Zitate. Die wenigen ausserbiblischen Erwaehnungen aus spaeterer Zeit sind jeweils im Zusammenhang mit anderen Personen oder Christen allgemein gemacht worden. Wir habe also, was das Leben Jesu angeht, nur die Evangelien, sonst nichts. Jerusalem wurde 70 n.Chr. dem Erdboden gleich gemacht. Die heutige Jerusalemer Altstadt ist der Nachfolger der spaeteren roemischen Stadt Aelia Capitolina, und sie liegt nicht dort, wo das herodianische Jerusalem lag. Der heutige Berg "Zion" ist nicht der israelitische Berg "Zion". Wir schauen hier auf eine drastische Zaesur. Die Gruende, warum der Jesus-Prozess gar nicht so stattgefunden haben kann wie in den Evangelien berichtet, sind vielfaeltig.

Dass solche Quellen problematisch sind, versteht sich von selbst. Im Talmud gibt es Andeutungen, Jesus sei das uneheliche Kind eines roemischen Soldaten mit einer juedischen Frau, oder auch Enkel, und alle moeglichen anderen Versionen; auch die Zeit, in der er angeblich lebte, kann ganz woanders liegen. Im Prinzip zeigt dies nur, wie tendenzioes unsere Quellen eigentlich sind (der Talmud wird z.B. in diesem Punkt nicht ernst genommen). Wir haben es, auch bei den Evangelien, letztlich mit Hoerensagen zu tun.

Wenn man die Paulus-Briefe liest (vor allem 1Kor), so sieht man, dass es sogar erwuenscht war, dass Leute Dinge ueber Christus erfinden; ich finde, die wenigsten Leute machen sich diesen Punkt klar.

Die Frage danach, was eigentlich als Blasphemie galt, ist uebrigens recht interessant. Ich erinnere mich an eine Diskussion von vor nicht allzu langer Zeit, wo angemerkt wurde, dass eigentlich nur das Aussprechen des Namens Gottes als Blasphemie galt. Nur, keines der Evangelien behauptet, Jesus haette das getan.
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#26
Das ist eine tiefgreifende Aussage - ULAN !!!

Das zeigt auch, weshalb die Bibelforschung zwangsläufig an ihre Grenzen kommen muss.
Wenn die Römer eine bewußte Vergessens-Strategie nach der Hinrichtung 33 nach Christus realisiert haben wird klar wo das Problem liegt. So ich das jetzt sehe hatten sowohl die Christen als auch Juden nach der Tempelzerstörung eine harte Zeit zu bestehen bei der Identitätsstiftung im Mittelpunkt des Lebensalltags stand.

Vor diesem Hintergrund könnte man aber auch die Entstehung des Evangeliums neu deuten. Es ging darum ein Vergessenseffekt
und Revisionsversuche mit einem plausiblen Glaubensbekenntnis zu beantworten. Ich bin sogar davon überzeugt, dass die danach stattgefundenen Christenverfolgungen sogar eine identitätsstiftende Wirkung haben.
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#27
(05-03-2018, 12:38)Ulan schrieb:
(05-03-2018, 00:13)Kunigunde Kreuzerin schrieb: Ich verstehe nicht hundertprozentig, warum Du so auf dem Satzschluss „außer mir“ insistierst. Soweit ich mittlerweile weiß, ist das koptische Manuskript, welches Logion 71 enthält, an dieser Stelle beschädigt und der Satzschluss „außer mir“ ist nur eine ungesicherte Rekonstruktion. Irre ich mich da? (siehe letzte Zeile unterm Link)
*http://www.gnosis.org/naghamm/GTh-pages/th_scan/14.jpg

Tut Bion doch gar nicht? Er bezeichnete die Deutung als "ausser mir" als "recht willkürlich vorgenommen".

Flüchtgkeitsfehler, sorry! Iwie hatte ich "gelesen" Evil5  , dass der Autor des Thomasevangeliums das "recht willkürlich vorgenommen" hat. Eusa_doh Soviel zu meinem Umgang mit den Quellen Icon_cheesygrin
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#28
(05-03-2018, 13:17)Kreutzberg schrieb: Alles weitere ist leider nur Kaffeesatzleserei, wegen fehlender Faktenlage - schade aber leider wahr !!!

Ich bin da ganz deiner Meinung, aber aus den Gründen, die ich ja schon genannt habe, interessiert mich diese Kaffeesatzleserei (zum allerersten Mal) näher (und ich hoffe, damit nicht zu nerven.) Mir geht es auch nicht darum, was am Ende richtig oder falsch ist. Ich will nur die (bestmögliche) Logik dieser Ansicht verstehen.
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#29
(05-03-2018, 00:13)Kunigunde Kreuzerin schrieb: Soweit ich mittlerweile weiß, ist das koptische Manuskript, welches Logion 71 enthält, an dieser Stelle beschädigt und der Satzschluss „außer mir“ ist nur eine ungesicherte Rekonstruktion.

Richtig!

Der überlieferte (koptische) Text zum Logion 71 ist nicht vollständig. Die am Ende des Satzes bestehende Lücke konnte bisher nicht rekonstruiert werden.

Deutungen werden einerseits so vorgenommen, als bestünde die Lücke nicht. Das heißt, es wird einfach nicht zur Kenntnis genommen, dass am Satzende etwas fehlt. Andererseits wird der Satz auf eine Weise ergänzt, dass er sich mit den kanonischen Tempelworten in Deckung bringen lässt. Beides sind wenig zufriedenstellende Vorgangsweisen.
MfG B.
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#30
(05-03-2018, 18:00)Kreutzberg schrieb: Das ist eine tiefgreifende Aussage - ULAN !!!

Das zeigt auch, weshalb die Bibelforschung zwangsläufig an ihre Grenzen kommen muss.
Wenn die Römer eine bewußte Vergessens-Strategie nach der Hinrichtung 33 nach Christus realisiert haben wird klar wo das Problem liegt. So ich das jetzt sehe hatten sowohl die Christen als auch Juden nach der Tempelzerstörung eine harte Zeit zu bestehen bei der Identitätsstiftung im Mittelpunkt des Lebensalltags stand.

Nur um das klarzustellen: Die Roemer haben gewiss nicht versucht, die Erinnerung an Jesus Christus zu beseitigen. 70 n.Chr. wurde versucht, den Tempel als identiaetsstiftenden und weisungsberechtigten Mittelpunkt des juedischen Nationalbewusstseins zu zerstoeren. Das funktionierte aber nicht wie gewuenscht, und es gab noch zwei weitere heftige Kriege. Danach war immer noch nicht Ruhe, da dann die Samaritaner mit ihrem Konkurrenzkult, der auf den Berg Gerizim gerichtet war, in die juedischen Fussstapfen traten und es auch mit diesen zu mehreren Kriegen kam. Die Samaritaner sind auch ein gutes Beispiel dafuer, dass die Beseitigung eines zentralen Tempelgebaeudes eine Religion nicht ausloescht; die Juden waren ja auch bei ihrem Versuch gescheitert, den samaritanischen Kult auzuloeschen, obwohl sie den samaritanischen Tempel zerstoert hatten.

Jesus war als Person wohl schlicht zu unbedeutend, um in der Geschichtsschreibung aufzutauchen, ausser in ein paar lapidaren Erwaehnungen, deren Echtheit auch nicht immer gesichert ist.

Den Versuch, christliche Schriften zu beseitigen, gab es zwar kurzfristig, aber das war spaeter, als der Kult schon eine gewisse Verbreitung hatte.

(05-03-2018, 18:00)Kreutzberg schrieb: Vor diesem Hintergrund könnte man aber auch die Entstehung des Evangeliums neu deuten. Es ging darum ein Vergessenseffekt
und Revisionsversuche mit einem plausiblen Glaubensbekenntnis zu beantworten. Ich bin sogar davon überzeugt, dass die danach stattgefundenen Christenverfolgungen sogar eine identitätsstiftende Wirkung haben.

Ja, das kann man so sagen. Dazu kommt, dass die Christen sich oft genug hinrichten lassen wollten, weil sie Jesu Christus imitieren wollten. Zeitweise war das Christentum also durchaus in Gefahr, zu einer Art Selbstmordkult zu konvertieren. Die Christenverfolgungen durch die roemischen Behoerden waren, mit ein, zwei Ausnahmen, eher halbherzig und lokal beschraenkt. Das aendert aber nichts daran, dass Verfolgung auch als Idee identiaetsstiftende Wirkung hat.
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