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Entwicklung der Gottesvorstellung
#1
Hallo zusammen.

Es folgt eine hypothetische Rekonstruktion der Entwicklung der Göttesidee.

Es gibt den einmaligen Fall eines apersonalen Gottheitsmonismus, der eine immense historische Dimension hat: die Urmutter=Natura naturans-Religion zwischen ca. 40.000 und ca. 12.000 BCE mit ihren Modifikationen bis ca. 6.000 BCE. Die historische Entwicklung nach dieser Zeit hat zu der irreversiblen Bedingung geführt, dass ein ´Gott´ nur noch personal gedacht werden kann, ganz einfach deswegen, weil übernatürliche Wesen seit vielleicht 6-7.000 Jahren anthropomorph und personal, d.h. als überhöhte Spiegelbilder irdischer Menschen, vorgestellt werden. Als Alternative sind nur Vorstellungen eines apersonalen Numinosen denkbar, wie sie in der globalen Mystik konzipiert sind und für die der Begriff ´Gott´ völlig deplaziert ist.

Vieles spricht dafür und nichts dagegen, dass die ursprüngliche Gottheitsvorstellung weiblich - und zwar ausschließlich weiblich - konnotiert war und keinerlei personale Züge aufwies. Ich meine die jungpaläolithische Idee einer kosmisch gedachten ´Urmutter´, welche das Leben - der Menschen und Tiere - periodisch hervorbringt und in sich zurücknimmt (= Wiedergeburtskreislauf / Jungpaläolithikum = Jungaltsteinzeit = ca. 40.000 - 12.000 BCE)). Es gibt zahlreiche Indizien für die Verehrung einer solchen der Natur einwohnenden Kraft. Grundlage dieser Vorstellung war die Projektion der Fähigkeit der Frau (und weiblicher Tiere), Leben zu generieren, auf die Natur als Ganzes, die als Analogon zur Frau gesehen wurde, und zwar unter dem Aspekt der Gebärfähigkeit. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat man sich diese Kraft nicht als ein personales Wesen zu denken, das einen spezifischen Eigennamen hat und den Menschen als ein ´Du´ gegenübersteht. Sinnvoller ist es, sich dieses Wesen als eine weiblich konnotierte Kraft vorzustellen, welche nicht getrennt von der Natur existiert, sondern sich in ihr manifestiert. Die `Urmutter´ war also vermutlich als natura naturans, als bildende Kraft in der Natur, gedacht und aufgrund der besagten Analogie weiblich symbolisiert.

Warum das Urkreative weiblich und nicht männlich oder zumindest hermaphroditisch gedacht war, erklärt sich aus der (höchstwahrscheinlichen) Unkenntnis über den männlichen Beitrag zur Zeugung, was sich erst im Kontext der Viehzucht zu Beginn des Neolithikums änderte. Logischerweise kamen also erst nach dem Einsetzen der Viehzucht erste Vorstellungen eines männlichen Fruchtbarkeit-Gottes auf, zunächst in Gestalt eines Stiers (oder seltener eines Widders). Dieser gleichfalls zunächst noch apersonale Gott, die Verkörperung des ´männlichen Prinzips´, gilt eine Zeitlang nur als Sohn und Begatter (Befruchter) der höhergestellten Muttergöttin.

Das Aufkommen polytheistischer Systeme mit weiblichen und männlichen Gottheiten war ein Reflex der irdisch-sozialen Entwicklung zu einer Hierarchisierung der Gemeinschaften und dementsprechend zu höherer sozialer Komplexität und einer sozialen (also nicht gender-spezifischen) Arbeitsteilung. Die ausschließlich männlichen Viehzüchter (frühere Jäger) begannen eine Herrenschicht zu bilden und die (historisch vorausgehenden) Bauern zu dominieren. Frauen (frühere Sammlerinnen und Begründerinnen des Ackerbaus) wurden aus ihren traditionellen Tätigkeiten (Ackerbau, Pflanzenzucht) herausgedrängt und auf Haus- und Hilfsarbeit beschränkt, weil der Pflug an die Stelle ihrer Hacken trat und der Mann, der das Ochsengespann dirigierte, den Ackerbau übernahm. Hinzu kam das Aufkommen der Metallurgie, ebenfalls komplett in der Hand der Männer. Die soziale Hierarchisierung und ökonomische Spezialisierung bedingte jene theologische Entwicklung, die schließlich ab dem 4. Jt. BCE in ausgefeilten polytheistischen Systemen mit jeder Menge personal gedachter Gottheiten beiderlei Geschlechts mündete.

Aus Sicht der Kritischen Theorie ist die Herausbildung personaler Gottheiten ein Ausdruck des Bemühens, irdische Herrschaft (das Fürsten- und Königtum) zu legitimieren, also jene Form sozialer Hierarchie, die entstand im Zuge

1)
der Aneignung sozialer Macht einer bestimmten Gruppe (die reichsten Viehzüchter) über den Rest der Gemeinschaft (andere Viehzüchter, Bauern, Handwerker usw.), und

2)
der sozialen Degradierung der Frau zum Gehilfen des Mannes (der die traditionelle Frauendomäne, den Ackerbau, übernommen hat).

Im 4. Jt. BCE nahm die religiöse Ideologie in Mesopotamien klare Formen an. Hier sind beispielhaft ein paar Zeilen von der "Geierstele", einem Monument des Sieges des Königs von Lagasch, Eannatum (um 2.500 BCE), über die benachbarte Stadt Umma:

Ningursu (= Stadtgott von Lagasch) hat den Eannatum gezeugt.
(...)
Inanna hat ihn (Eannatum) auf den Arm genommen und ins Eanna gebracht (=Tempel der Fruchtsbarkeitsgöttin Inanna).
Sie hat ihn der Ninhursag (= Muttergöttin) auf ihren Schoß gesetzt und an ihre Brust gelegt.
Über Eannatum hat sich Ningursu (Stadtgott) gefreut.
Ningursu hat ihm aus großer Freude das Königtum über Lagasch verliehen.
(usw.)

Die Funktion personal gedachter Gottheiten besteht hier unübersehbar darin, den Herrscher als gottgewollt zu legitimieren. Spätere Vorstellungen vom "Gottesgnadentum" wurzeln darin.

Die Zweckbestimmungen von Praktiken des "Übernatürlichen" bis zu den Anfängen des Theismus sind, auf den einfachsten Nenner gebracht:

1) Bewusstseinstransformation des Einzelnen (= Spiritualität)

2) Stärkung des Zusammenhalts sozialer Gruppen durch gemeinsamen Kult

Die Geschichte zeigt, dass von Anbeginn des religiösen Denkens der genannte Punkt 1 immer in der Hand von Expert/-innen lag (zunächst Schamanen). Die offiziellen Kulte erfüllten die Funktion von Punkt 2. Zu einem egalitätsgefährdenden Problem wurden die Kulte erst ab Ende des Neolithikums (d.h. ab dem 4. Jt. BCE), als die matrifokalen Gesellschaften von gewalt- und machtorientierten patriarchalischen Völkern (Sumerern und Indoeuropäern) überrannt und unterworfen wurden. Die Herrschaftskaste - Könige und Priester - instrumentalisierte in der Folge das religiöse Denken für die Zwecke der psychologischen Unterwerfung des Volkes. Erst jetzt entstanden großangelegte theistische Systeme als Stütze für die expansive Macht- und zentralistische Wirtschaftspolitik der Mächtigen. Das Christentum ist eine späte, philosophisch-hellenistisch aufgepeppte Systemvariante, freilich die blutrünstigste von allen.

Parallel zu den machtpolitisch pervertierten Religionsformen gab es aber immer auch Strömungen, die den ursprünglichen ´Geist´ des Religiösen unter dem Aspekt des obengenannten Punkt 1 bewahrten. In den älteren Religionen lässt sich das am besten in der ägyptischen und der griechischen Religion beobachten (Isis-Mysterien, Mysterien von Eleusis und Samothrake). Auffällig ist, dass diese bedeutenden spirituellen Mysterien Göttinnen als Symbolfiguren (nicht als personale Gottheiten) beanspruchten, sie standen also auch in dieser Hinsicht im Gegensatz zu den offiziellen patriarchalisch-maskulinen Machtreligionen. Dass in Eleusis und Samothrake den Initianden Drogen verabreicht wurden, ist hinlänglich bekannt, auch, dass geistige Größen wie Platon und Aristoteles, nebst anderer Prominenz, daran teilnahmen.

Im Unterschied zur theistischen Religion ist Spiritualität/Mystik ganz der unmittelbaren Wahrheit des Erlebnisses verpflichtet. Sie ist nicht von ihrem Gegenstand (der Wirklichkeit = Wahrheit) getrennt wie der Glaubende von seiner Göttern oder der Wissenschaftler von seinen Objekten, sondern ´wird eins´ mit ihm (unio mystica).


Zusammenfassung:

1)
Die ursprüngliche Gottesvorstellung ist apersonal. Die ´Gottheit´ wird als abstraktes Analogon der Frau vorgestellt. Der entsprechende soziale Hintergrund ist tendenziell egalitär, d.h. ohne hierarchisch geordnete soziale Schichten. Schamaninnen und Schamanen dürften als charismatische Autoritäten fungiert haben.

2)
Mit dem erhöhten Selbstbewusstsein des Mannes (Erkenntnis seiner Zeugungsfähigkeit) kommt es zur Herausbildung männlicher Gottheiten, die sich schrittweise an die Bedeutung weiblicher Gottheiten annähern und diese schließlich überholen (ab dem 4. Jt. BCE). Alle Gottheiten werden fortan personal vorgestellt. Die erfolgreichsten Viehzüchter schwingen sich zu den Herren der Gesellschaft auf. Ihre Werkzeuge werden später theologisch überhöht (Geißel und Krummstab). Ein Reflex findet sich auch im AT, wo der Hirte Abel von ´Gott´ dem Ackerbauern Kain vorgezogen wird.

Die personale Gottesvorstellung ist also ein Resultat ´theologischer´ Bemühungen der ersten Herrenschichten, ihre Herrschaft religiös zu legitimieren. Kurz: Sie ist genuine Ideologie.

Der natürliche spirituelle Impuls im Menschen wurde davon zwar eingeengt, aber nicht ausgelöscht. Die Idee einer apersonalen natura naturans wurde später ´vergeistigt´, was sicher auf entsprechende schamanistische Erfahrungen zurückgeht bzw. auf Erfahrungen, die sich schamanistischen Bewusstseinstechniken verdanken. Als Beispiel nenne ich Parmenides, den ersten bekannten Geist-Philosophen der Antike, welcher, Prof. Walter Burkert zufolge, durch schamanistische Techniken inspiriert war. Im Osten entwickelten sich apersonale Vorstellungen einer numinosen ´Kraft´ im Brahmanismus (Brahman = der apersonale unendliche Weltgeist) und, in produktiver Auseinandersetzung damit, der Buddhismus (Nirvana / Shunyata). Im Westen widmete sich die Mystik der Erforschung des apersonalen Numinosen.
Dass diese mystischen Strömungen sehr viel mehr auf der Linie der uralten Vorstellungen einer apersonalen Natura naturans (wie im Urmutter-Kult erstmals ausgeformt) als auf der Linie der ideologischen Konstrukte der polytheistischen und monotheistischen Systeme liegen, ist wohl klar. Ein Bindeglied ist z.B. die ägyptische Muttergöttin Isis, die im Zentrum eines antiken, der Erforschung des Numinosen gewidmeten Mysterienkultes stand und symbolisch als alles erzeugende Kraft, also als Natura naturans, verehrt wurde. Dass die polytheistischen und monotheistischen Systeme dieses Potential auch auf ihre personalen Götter übertragen hatten (z.B. in Ägypten Atum und Ptah, im Judentum Jahwe, im Christentum ´Gott´, im Islam Allah), ist nichts anderes als ein sekundärer personalisierender Abklatsch der viel älteren Vorstellungen der alles erzeugenden apersonalen Allgöttin.
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#2
Danke für die schöne Abhandlung.  Hochinteressant !
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#3
(28-08-2016, 18:28)Tarkesh schrieb: Es gibt den einmaligen Fall eines apersonalen Gottheitsmonismus, der eine immense historische Dimension hat: die Urmutter=Natura naturans-Religion zwischen ca. 40.000 und ca. 12.000 BCE mit ihren Modifikationen bis ca. 6.000 BCE. Die historische Entwicklung nach dieser Zeit hat zu der irreversiblen Bedingung geführt, dass ein ´Gott´ nur noch personal gedacht werden kann, ganz einfach deswegen, weil übernatürliche Wesen seit vielleicht 6-7.000 Jahren anthropomorph und personal, d.h. als überhöhte Spiegelbilder irdischer Menschen, vorgestellt werden. Als Alternative sind nur Vorstellungen eines apersonalen Numinosen denkbar, wie sie in der globalen Mystik konzipiert sind und für die der Begriff ´Gott´ völlig deplaziert ist.

Es scheint in der Tat eine Art Ur-Religiosität (aber
keine einheitliche Urreligion) der
Menschheit gegeben zu haben, die
auf einem apersonalen monistischen
Gottesbild aufbaute.

Dabei handelte es sich aber sehr wahrscheinlich
nicht um eine pantheistische, nur die
Immanenz sehende, Ur-Mutter-Religion,
sondern um eine Form von Religiosität,
die die Gottheit als immanenten und
transzendenten universalen Urgrund ansah,
der an sich geschlechtslos ist.
Die Vorstellung, dass Götter so etwas
wie ein Geschlecht haben ist selbst
anthropomorph.

Dabei wurde die Gottheit wahrscheinlich
( - und ich gebe zu, dass ich für diese Theorie
keinen letzten Beweis hab) als eine
Art metaphysische Sonne angesehen
und die Welt als ihre Ausstrahlung.

(Dabei gibt es hier keinen strikten Gegensatz
zwischen "den Göttern" und "Gott". Die
vielen Götter werden hier einfach als
Formen des Einen angesehen)

Die Sonne ist das, was sich am ehesten
mit der Gottheit vergleichen lässt, sie
steht (scheinbar) unbewegt am Himmel
und ist doch wirkend. Sie ist In-Sich-Ruhend
und strahlt doch Kraft aus.

Tarkesh schrieb:Parallel zu den machtpolitisch pervertierten Religionsformen gab es aber immer auch Strömungen, die den ursprünglichen ´Geist´ des Religiösen unter dem Aspekt des obengenannten Punkt 1 bewahrten. In den älteren Religionen lässt sich das am besten in der ägyptischen und der griechischen Religion beobachten (Isis-Mysterien, Mysterien von Eleusis und Samothrake). Auffällig ist, dass diese bedeutenden spirituellen Mysterien Göttinnen als Symbolfiguren (nicht als personale Gottheiten) beanspruchten, sie standen also auch in dieser Hinsicht im Gegensatz zu den offiziellen patriarchalisch-maskulinen Machtreligionen. Dass in Eleusis und Samothrake den Initianden Drogen verabreicht wurden, ist hinlänglich bekannt, auch, dass geistige Größen wie Platon und Aristoteles, nebst anderer Prominenz, daran teilnahmen.

Ich bin nicht der Ansicht, dass die traditionellen Götterkulte
der Griechen und Ägypter pervertierter waren als die
Mysterienkulte. Diese Religionen hatten noch in
erhöhtem Maße teil an der Ur-Religiosität
als die Mysterienkulte.
Man muss noch Ordnung in sich haben, um einen
tanzenden Stern zu gebären.
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