Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Mythos, Mythologie
#1
Unter Mythologie wird einerseits die Gesamtheit der Mythen eines Volkes oder Kulturkreises, andererseits die wissenschaftlich-systematische Sammlung, der Vergleich und die Deutung von Mythen (↗Götter- und Heldensagen, etc.) verstanden.

Mythos wird im Deutschen Universalwörterbuch (Duden) folgendermaßen definiert:
Zitat:1. Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung aus der Vorzeit eines Volkes (die sich besonders mit Göttern, ↗Dämonen, Entstehung der Welt, Erschaffung der Menschen befasst).

2. Person, Sachen, Begebenheiten, die (aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert werden und ↗legendären Charakter haben.

Die Etymologie des Begriffs Mythos (μῦθος) ist nicht eindeutig.

In den ältesten Texten wird Mythos in der Bedeutung von Wort (zB Hom. Il. 1, 25) und Erzählung, Rede (zB Hom. Il. 4, 25) gebraucht. Der von ↗Homer häufiger verwendete Ausdruck für Rede (bzw. mündliche Äußerung jedweder Art) ist allerdings ↗Epos. Ein Bedeutungsunterschied lag zur Zeit Homers nicht vor. Es hing offenbar von der Metrik ab, welches Wort verwendet wurde.

Wirkungsvoll werden die ↗griechischen Mythen in Homers Epen (↗Ilias, ↗Odyssee), in der Theogonie ↗Hesiods, in den ↗Tragödien des ↗Aischylos, des ↗Sophokles und des ↗Euripides, durch die "Bibliothek" des (Pseudo-)↗Apollodor, in den Reisebeschreibungen des ↗Pausanias, aber auch durch römische Nachdichtungen, Überarbeitungen und Erweiterungen (u.a. ↗Vergil: ↗Aeneis; ↗Ovid: ↗Metamorphosen, ↗Fasten; ↗Seneca: ↗Ödipus, etc.) vermittelt.

Im Sinne von "unwahrer Erzählung", ↗Märchen, wurde Mythos erstmals von ↗Pindar gebraucht (zB 1. Olympische Ode 32-34, 7. Nemeische Ode 23). Die mythoi der Sterblichen, meint er, seien mit pseudea (= Lügen) ausgeschmückte ↗Fabeln.

Auch bei  ↗Platon tritt der Unterschied zwischen Mythos (unwahre Geschichte) und ↗Logos (wahrer Bericht) nicht immer eindeutig hervor.  Im Phaidon  nennt er die Fabeln ↗Äsops einmal logoi (Phaidon 60d), ein andermal mythoi (Phaidon 61b). Im Gorgias-Dialog (523a) hingegen streicht er den Unterschied heraus: ↗Sokrates legt Wert darauf, die Einsetzung eines Gerichts über die Toten durch ↗Zeus für einen Logos (also für Wahrheit) zu halten, was Kallikles dagegen für einen Mythos (für ein Märchen, eine Erzählung von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt) hält.  

Für ↗Aristoteles beschreiben die Begriffe Logos (vernunftbegründeter Bericht) und Mythos  (Bericht mit mangelhaftem Wahrheitsgehalt, der aber bedeutsame Botschaften enthalten kann) Dinge, die auseinanderzuhalten sind. Der Mythos-Begriff charakterisiere, so meinte Aristoteles,  auch die Tragödie, denn die Seele der Tragödie sei eben der Mythos (Poetik 1450b).

Dass Mythen eine besondere Art von Wahrheit enthalten können, wurde von ↗stoischen Philosophen und ↗Neuplatonikern aufgegriffen.  Insbesondere ↗Plotin vertrat die Meinung, dass Mythen zeitlose, ewige Wahrheiten vermitteln und es dem Philosophen möglich sei, die Wirklichkeiten, die sich im Mythos verbergen, zu entdecken und zu erklären.

Die von den Neuplatonikern vertretene ↗allegorische Interpretation hat die Mythen auch für das ↗Christentum tolerierbar gemacht und sie der Menschheit als kulturelles Erbe erhalten. Einerseits war man häufig bereit, bei heidnischen Dichtern und Philosophen (Vergil, Ovid, Platon, etc.), "Christliches" zu entdecken, andererseits haben christliche Autoren von der ↗Patristik bis zur ↗Aufklärung in den heidnischen Mythen aber immer wieder auch konkurrierende theologische Systeme vermutet (heidnischer Mythos sei Fabula, also Erlogenes, Widersprüchliches, Unvernünftiges, etc., christlicher Logos hingegen sei ↗Vernunft, sei die Wahrheit). In der Auseinandersetzung mit ↗Celsus musste ↗Origenes allerdings einräumen, dass auch so manche Bibelstelle Mythos sei und nur mithilfe der ↗Allegorese Sinn ergäbe und verstanden werden könne.

In der ↗Renaissance, der ↗Klassik und insbesondere in der ↗Romantik gewinnen ↗antike Mythen bei den Kunstschaffenden an Wertschätzung. Mit ↗Jacob Grimms "Deutscher Mythologie" (1835) erfahren auch die nordischen Mythen und Sagenkreise stärkere Beachtung. ↗Herder meinte, die Dichter sollen die Mythen wegen ihrer sinnlichen Schönheit studieren1, K.  Ph. Moritz behauptete in seiner "Götterlehre"2, dass die Mythen Spuren der ältesten Geschichte beinhalten und dass es schon aus diesem Grunde wert sei, sich mit ihnen zu befassen.

Heute wird die Mythenforschung als religions- und kulturwissenschaftliche Disziplin betrieben. Das Interesse der Forschenden beschränkt sich nicht auf das griechisch-römische Erbe, die keltische und nordische Mythologie, etc.,  sondern greift auch altorientalische Mythen und Sagenkreise, die in biblische Texte3 Eingang gefunden haben, vergleichend auf.


1) Johann Gottfried Herder. Vom neuern Gebrauch der Mythologie, 1767
2) Karl Philipp Moritz. Götterlehre oder die mythologischen Dichtungen der Alten, 1791
3) Walter E. Beltz. Gott und die Götter. Biblische Mythologie. 62007 Hamburg. Nikol Verlagsgesellschaft.



● Zum Inhaltsverzeichnis des Lexikons
MfG B.
Zitieren


Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste