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Ansprache des Bundespräsident
#16
(08-10-2010, 17:15)t.logemann schrieb: ----ich bezweifle mal, dass die Demokratie so wie wir sie heute kennen einzig und alleine auf den Gedankengängen der Humanisten, der Atheisten aufgebaut wurde. Christliche (nicht kirchliche) Werte spielten da ebenso eine Rolle wie alttestamentarisch-jüdische Werte - und nicht zuletzt auch die leidvollen Erfahrungen der Juden mit den wechselnden Progromen im Laufe ihrer Diaspora.

Die europäische Demokratie ist genau so ein Kompromiß wie die konstitutionelle Monarchie einer war, (die einzige Ausnahme im letzteren Falle stellt das Empire dar, aber die Kollegen Europas waren nie darum bemüht, dem Ideale nachzueifern- im Übrigen darf man im Zusammenhange mit dem Empire auch die religiöse Besonderheit nicht vergessen). Ein Kompromiß, der im Laufe der Zeit durch Revolutionen - den Mob, wie er so wunderbar von Ekkard in anderem Zusammenhange gebrandmarkt wurde - diktiert wurde. Die Demokratie, wie wir sie kennen, konnte nur durch "den Mob" entstehen; dieser Mob war von seiner Prägung her eher atheistisch. In jedem Falle waren die Denker, die hinter den Prozessen, die u.a. zu der großen Revolution in Frankreich führten, Menschen, die nichts als gottgegeben akzeptierten und Dinge hinterfragten.
Ohne den "Mob" gäbe es heute weder eine konstitutionelle Monarchie, noch eine Demokratie. Der Klerus hätte genauso viel Macht über die einzelnen europäischen Staaten wie noch vor 300-400 Jahren, und eine Exkommunikation aus Rom wäre ein Casus Belli für alle anständigen, katholischen Staaten. Auch würde es immer wieder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen wahrheitswütiger Evangelen - wahlweise gegeneinander, heißt: Lutheraner gegen Calvinisten und umgekehrt, als auch gegen eine katholische Minorität im Lande geben.
Die im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte voranschreitende Entmachtung sowohl des Klerus', als auch der evangelischen Strömungen, hat sehr viel mit jenen gewaltsamen Revolten zu tun. Ihnen "verdanken" wir dieses System. Hätte es jene Revolten nicht gegeben, gäbe es heute kein demokratisches Europa. Das Christentum, um es so allgemein zu formulieren wie Du, Thomas, hat hier einzig Bremsklötze ins System eingearbeitet, die teilweise bis heute fortbestehen und zu so dämlichen Analogien wie "christliches Abendland" führen. Das christliche Abendland ist tot, und diese Leiche ist keine, der man irgendwelche Tränen nachweinen sollte, wenn man sich objektiv ansieht, was jenes in Europa angerichtet und welche Resultate - bis hin zum antisemitischen Holocaust (christlicher Antisemitismus hat eine Jahrhunderte lange, traurige Tradition im christlichen Europa, durch alle Strömungen hindurch - Luther war, gleich der Päpste, die er verabscheute, ein glühender Judenhasser)- es hervorgebracht hat.
Die Religionsfreiheit, die weitgehende politische Entmachtung der Religion, die Religionsausübung als Privatsache, nicht mehr als Hybris, die auch gegen fremde Republiken sich richtet,- all dies ist nicht das Resultat christlicher Katharsis, sondern revolutionärer Aufstände gegen das aus diesem Unrechte hervorgegangene System. Insofern ist es inkonsequent, nahezu masochistisch, als Nutznießer eines Systems, das nur durch die Gewalt gegen die herrschende religiöse und traditionelle Klasse entstehen konnte, jene Religion, die das hervorgebracht hat, was man heutzutage als überwunden ansieht, als sonderlich prägend für dieses System zu betrachten. Diese Religion, das Christentum, hat weiterhin ihren Einfluß in diesem System; ihr Bruder, der Islam, hat ebenso an Einfluß gewonnen. Aber dies ändert das System nicht, das in Europa grundsätzlich Staat und Kirche trennt - in einigen Ländern weniger (bsplw. Deutschland), in anderen Ländern mehr (bsplw. Frankreich). Aber jene Trennung ist das Wesen dieses Systems, das ohne starke nicht-religiöse Opposition niemals entstanden wäre.

Edit: Um hier noch eine Ergänzung vorzunehmen - meine Ausführungen gelten der europäischen konstitutionellen Monarchie und später der Demokratie, nicht aber der amerikanischen Demokratie. Die amerikanische Demokratie ist weitaus mehr religiös geprägt als die europäische, ist auch in anderen kontextuellen Zusammenhängen zu betrachten.
“I love to play with kids; they’re easy to cheat and fun to beat.” –Fran Lebowitz
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#17
Lieber Franziskus,

Du wirst doch sicher nicht bestreiten, dass der christliche Grundsatz der Nächstenliebe in der Formulierung Heine's zu den "unveräusserlichen Menschenrechten" auch seinen Niederschlag gefunden hat....
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#18
Seinen Niederschlag worin? In die heutige Kultur, die aus Kompromissen geformt wurde? Sicherlich. Wie vieles andere auch. Wir könnten jetzt Ewigkeiten darüber diskutieren, dass Du Dir die Rosinen aus einem grundsätzlich demokratiefeindlichen System herauspickst, aber das wäre nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass dieses System ein Resultat aus primär nicht-religiösen Bewegungen ist, die eine Loslösung der religiösen Macht in Europa zum Ziele hatten. Dass Du Dir die religiöse Macht mit solchen Rosinchen schönzureden versuchst ist Dein Recht - aber historisch betrachtet hat das Christentum nichts zur Demokratisierung beigetragen, was auch aus Sicht der damaligen Repräsentanten aller Strömungen relativ bescheuert gewesen wäre.
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#19
Das Christentum, lieber Franziskus, macht hinsichtlich eines Systems überhaupt keine Aussage. "...gebt dem Kaiser was des Kaiser's ist und Gott was Gottes' ist" ist weder eine Bejahung, noch eine Verneinung eines Staatssystems - es ist lediglich der -leider nicht verstandene- Hinweis darauf, dass Politik und christlicher Glaube nichts miteinander zutun haben.

Insoweit ist Deine Auffassung, dass die christliche Religion "grundsätzlich demokratiefeindlich" wäre, aus der Luift gegriffen.

Dass in späteren Zeiten die Führer der Christenheit, allen voran die Päpste, sich vehement gegen soziale Demokratie ausgesprochen haben, hat nichts mit der Lehre per se zutun, sondern mit deren ungezügeltem Machtstreben. Das, nämlich das Machtstreben, hat Jesus aber nicht gelehrt.
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#20
(06-10-2010, 19:44)humanist schrieb:
Wulff schrieb:Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.

Besteht also Deutschland nur aus Juden, Christen und Muslimen?

non sequitur
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
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#21
(08-10-2010, 17:15)t.logemann schrieb: ----ich bezweifle mal, dass die Demokratie so wie wir sie heute kennen einzig und alleine auf den Gedankengängen der Humanisten, der Atheisten aufgebaut wurde. Christliche (nicht kirchliche) Werte spielten da ebenso eine Rolle wie alttestamentarisch-jüdische Werte

natürlich spielen diese eine rolle für die entwicklung der demokratie. bilden sie doch zu großen teilen den sozusagen natürlichen widerpart, an dem sich reibend die "Gedankengänge der Humanisten, der Atheisten aufgebaut wurden"

(08-10-2010, 17:15)t.logemann schrieb: - und nicht zuletzt auch die leidvollen Erfahrungen der Juden mit den wechselnden Progromen im Laufe ihrer Diaspora

der zusammenhang zwischen demokratie und pogrom erschließt sich mir jetzt nicht so direkt
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#22
(10-10-2010, 16:47)petronius schrieb:
(06-10-2010, 19:44)humanist schrieb:
Wulff schrieb:Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.

Besteht also Deutschland nur aus Juden, Christen und Muslimen?

non sequitur

Habe die Vermutung angestellt. Über Wulffs Denke lässt sich nur spekulieren.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#23
Wieso wird bei einer solchen Aussage, die nicht im auschließlichen Sinne erfolgte, davon ausgegangen, daß alles andere als das Genannte, nicht dazugehört? Der Sinn ging doch darauf hinaus, daß der Islam mittlerweile auch dazugehört.

Gruß
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#24
Herr Wulff sprach davon, dass der Islam zu Deutschland gehöre, da Muslime zu Deutschland gehören. Das ist unsere Wirklichkeit der Zusammengehörigkeit.
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#25
Lieber petronius,

die Progromme an den Juden bis hin zur Barbarei des Nazi-Regimes waren auch ein wichtiger Grund zur Festsetzung der Bekenntnis- und Religionsfreiheit in den internationalen, kontinentalen Menschenrechten und in unserem Grundgesetz.
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#26
(11-10-2010, 09:44)t.logemann schrieb: die Progromme an den Juden bis hin zur Barbarei des Nazi-Regimes waren auch ein wichtiger Grund zur Festsetzung der Bekenntnis- und Religionsfreiheit in den internationalen, kontinentalen Menschenrechten und in unserem Grundgesetz.

auch war so einiges involviert bei den überlegungen zur formulierung der menschen- und bürgerrechte. ich meine aber, daß weder judenpogrome noch christliche oder alttestamentarisch-jüdische werte die haupt- oder auch nur eine prominente rolle dabei gespielt haben
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
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#27
Nun lieber Petronius,

einige der Väter und Mütter des Grundgesetzes sahen sich expliziet dem christlichen Glauben verpflichtet - es ist kaum anzunehmen, dass diese ihre ethisch-christliche Glaubenlehre nicht in das Grundgesetz eingeflossen wäre....
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#28
(11-10-2010, 10:54)t.logemann schrieb: einige der Väter und Mütter des Grundgesetzes sahen sich expliziet dem christlichen Glauben verpflichtet - es ist kaum anzunehmen, dass diese ihre ethisch-christliche Glaubenlehre nicht in das Grundgesetz eingeflossen wäre....

"die Demokratie so wie wir sie heute kennen", besteht ja nicht allein im deutschen grundgesetz, und dessen "Väter und Mütter" rekrutierten sich nicht ausschließlich, ja womöglich noch nicht mal zur mehrheit, aus praktizierenden/gläubigen christen

ich halte daher meine sicht aufrecht, daß bei den überlegungen zur formulierung der menschen- und bürgerrechte weder judenpogrome noch christliche oder alttestamentarisch-jüdische werte die haupt- oder auch nur eine prominente rolle dabei gespielt haben

daß christen schließlich auch auf den zug der allgemeinen der menschen- und bürgerrechte aufgesprungen sind, nachdem die kirchen eingesehen haben, daß er ihnen ansonsten davonfährt - das will ich gar nicht bestreiten
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#29
Ich fühle mich bei solchen Aussagen ausgeschlossen.
Ist ja nicht so, dass man ein Drittel der Bevölkerung übersehen könnte (wir führen übrigens die Statistik an).

Ich korrigiere Wulffs Satz:
Die Konfessionslosen gehören zweifelsfrei zu Deutschland. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere säkular-christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]
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#30
(11-10-2010, 19:08)humanist schrieb: Ich fühle mich bei solchen Aussagen ausgeschlossen.
Ist ja nicht so, dass man ein Drittel der Bevölkerung übersehen könnte (wir führen übrigens die Statistik an).

Das ist und bleibt wohl "unser" Problem; Konfessionslose sind keine homogene Gruppe, von daher also für die Politik kein Klientel, das man unbedingt zufriedenstellen muss. Was auch immer Wulffs persönliche Ansichten sind (die ganz sicher pro-christlich sind), die politische Dimension allein verhindert dass man als Nicht-Angehöriger der Großkirchen ernstgenommen wird...
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