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Lyrik versus Prosa
#1
Immer wieder höre ich von Muslimen, wie schön der arabische Urtext des Korans ist.
Tatsächlich macht die Versform so manchen Text eingängiger, verlockender und geheimnisvoller.
Hier mal ein Beispiel eines deutschen „Kriegsverses“ aus dem 19. oder gar 18. Jahrhundert:

Arnim/Brentano (Hrsg.)

Frommer Soldaten seligster Tod

Kein selger Tod ist in der Welt,
Als wer vorm Feind erschlagen
Auf grüner Heid auf freiem Feld,
Darf nicht hörn groß Wehklagen.
Im engen Bett, da einr allein
Muss an den Todesreihen,
Hier aber findt er Gesellschaft fein,
Falln mit, wie Kräuter im Maien.
Ich sag ohn Spott,
Kein seligr Tod
Ist in der Welt,
Als so man fällt
Auf grüner Heid,
Ohn Klag und Leid.
Mit Trommeln Klang,
Und Pfeifen-Gsang
Wird man begraben,
Davon tut haben
Unsterblichen Ruhm
Mancher Held fromm,
Hat zugesetzt Leib und Blute,
Dem Vaterland zu gute.

(Ausschnitt; aus: Des Knaben Wunderhorn, erschienen 1806-08)


Und hier mal eine „Übersetzung“ in sachliche Sprache:
W = wörtlich, B = Bedeutung

Es gibt keinen besseren (w. seligeren) Tod in der Welt,
als vom Feind erschlagen
(zu werden).
Auf grüner Heide, auf freiem Feld,
darf er kein großes Wehklagen hören
(machen? Darf Gott oder der Soldat kein Wehklagen hören? Muss nicht das Wehklagen der Verwandten hören, wenn er im Bett stürbe?).
Im engen Bett (ist es nicht gut), wo man allein (einsam) sterben muss (w. muss an den Todesreihen).
Hier
(im Krieg) aber findet er gute (w. feine) Gesellschaft.
(Kammeraden) fallen mit (ihm) wie Kräuter (die in Büscheln gepflückt werden) im Mai.
Ich sage ohne Spott,
es gibt keinen
besseren (w. seligeren) Tod
in der Welt,
wie zu fallen
(B: von Feindeshand zu sterben).
Auf grüner Heide
ohne Klage und Leid.
Mit (w. Begleitet von) Trommelklang
und Pfeifengesang
wird man begraben.
Dadurch (w. Davon) gelangt (w. hat) manch frommer Held (zu) unsterbliche(n)m Ruhm.
(Er) hat Leib und Blut dem Vaterland gegeben (w. zugesetzt).

Nun erscheint der Text klarer, aber auch schrecklicher.


Noch etwas ist mir aufgefallen:
Das Wort „fallen“ in der Bedeutung „bei einer Kriegshandlung getötet zu werden“.

Wenn man jetzt die ganze Bandbreite der deutschen Sprache zugrunde legt und die Tatsache, dass das Wort „fallen“ für Soldatentod langsam aus der Mode kommt, dann könnte man „fallen“ auch anders deuten:
- Hinfallen, Stürzen
- Abfallen, Distanzieren
- aus allen Wolken „fallen“

Dann könnte man die Sätze, in denen „fallen“ vorkommt auch anders interpretieren:

„Hier im Krieg findet er gute Gesellschaft. Kammeraden fallen mit ihm in Scharen (wie Kraüterbüschel) aus allen Wolken.
Ich sage ohne Spott,
es gibt keinen besseren Tod in der Welt, als aus allen Wolken zu fallen.“

Bei dieser Übersetzung bekommt der Text einen ironischen Unterton und wird zum Antikriegstext. Es wird das grausame Erwachen der Soldaten beschrieben, die plötzlich in Scharen begreifen, wie schlimm der Krieg ist. Und der Tod ist ein Synonym für den Tod der Unwissenheit.
Und auch die anderen Sätze lassen sich dann durchaus ironisch lesen. Z.B. der Soldat darf nicht klagen, er wird mit Trommelklang und Pfeifengesang begraben, aber was nützt ihm der Ruhm fürs Vaterland zu sterben, u.s.w.

Dennoch ist der Ursprungstext wohl doch kriegsverherrlichend gemeint.

Ich wollte hier mal ein Beispiel für die Übersetzung eines Gedichts in einen sachlichen Text bringen, die Möglichkeiten der Auslegung und den Eindruck, den auf der einen Seite das Gedicht und auf der anderen Seite die sachliche Übersetzung hinterläßt.

Eusa_think
Lhiannon
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