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Wirklichkeit
#1
In einem ersten Anlauf würde ich den Begriff "Wirklichkeit" dann anwenden, wenn eine Wechselbziehung zwischen verschiedenen Dingen zu erkennen ist.

Zu erkennen sind Veränderungen.
Als Physiker ist mir das bei Objekten unserer anfassbaren Welt klar. Vielen anderen sicher auch. Wenn ein Stein rund geschliffen erscheint, dann hat dies die Verwitterung oder fließendes Wasser bewirkt.

Wie ist das aber mit Lerneffekten, Einflussnahmen, Gruppendynamik? Welche Art von Wirklichkeit umgibt uns, wenn es um geistige, vorgestellte Dinge geht?
Ist beispielsweise die Welt der Farben, der Bekenntnisse, der Wertvorstellungen wirklich?
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#2
Hallo Ekkard!
Ich versteh deinen ersten Satz schon gleich nicht. Wieso betitelst du einen Kausalzusammenhang mit "Wirklichkeit" und nicht "Wirkung", "Wechselwirkung", "Beziehung" etc.?
Willst du mit deiner Frage darauf hinaus, ob es diese Wechselbeziehung auch im immateriellen Bereich gibt? Willst du ein universelles Gesetz, wie ein Newton-Gesetz für die Physik, für geistige Prozesse aufspüren?

Grüßle
Sonne

Das Leben ist doch wunderbar, drum nehm ich Psychopharmaka!
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#3
(24-05-2009, 10:59)Ekkard schrieb: Wie ist das aber mit Lerneffekten, Einflussnahmen, Gruppendynamik? Welche Art von Wirklichkeit umgibt uns, wenn es um geistige, vorgestellte Dinge geht?
Ist beispielsweise die Welt der Farben, der Bekenntnisse, der Wertvorstellungen wirklich?

Ich nenne es mal "kulturelle Wirklichkeit" . Diese existiert ganz sicher und ist für die direkte menschliche Wahrnehmung seiner Umwelt wohl auch von entscheidenderer Bedeutung als die physikalische Realität , die eh kein Mensch wirklich kennt .

Allerdings steht diese "kulturelle Wirklichkeit" unter der physikalischen und ist von ihr abhängig .
Folglich ist jeder Versuch , etwa eine religiöse "Wahrheit" über die physikalische Realität zu erheben - also etwa zu behaupten , der Bibelgott habe die physikalische Welt erschaffen - irgendwo lächerlich ; zumindest dann , wenn es um Erkenntnisgewinn gehen soll .
In rein kulturellem Kontext , also da wo man sich bewusst in eine kulturelle Wirklichkeit begibt , sieht es anders aus ; etwa vergleichbar mit einem Spiel , bei dem man mitwirkt und an dessen Regeln man sich hält .
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#4
(24-05-2009, 10:59)Ekkard schrieb: In einem ersten Anlauf würde ich den Begriff "Wirklichkeit" dann anwenden, wenn eine Wechselbziehung zwischen verschiedenen Dingen zu erkennen ist.

Zu erkennen sind Veränderungen.
Als Physiker ist mir das bei Objekten unserer anfassbaren Welt klar. Vielen anderen sicher auch. Wenn ein Stein rund geschliffen erscheint, dann hat dies die Verwitterung oder fließendes Wasser bewirkt.

Wie ist das aber mit Lerneffekten, Einflussnahmen, Gruppendynamik? Welche Art von Wirklichkeit umgibt uns, wenn es um geistige, vorgestellte Dinge geht?
Ist beispielsweise die Welt der Farben, der Bekenntnisse, der Wertvorstellungen wirklich?

unter "wirklichkeit" würde ich das verstehen wollen, was intersubjektiv etabliert werden kann. das ist bei physikalischen phänomen (und steinen) recht einfach, "bei geistigen, vorgestellten Dingen" oft schwierig bzw. nur partiell gegeben
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#5
(24-05-2009, 11:39)Sonne schrieb: Wieso betitelst du einen Kausalzusammenhang mit "Wirklichkeit" und nicht "Wirkung", "Wechselwirkung", "Beziehung" etc.?
Mir geht es tatsächlich um den Begriff "Wirklichkeit" und ich stelle diesen Begriff nicht zufällig im Forum Philosophie zur Diskussion. Was ist Wirklichkeit? Die Definition von Petronius erscheint mir angemessen. Da er aber bei "vorgestellten Dingen" nur "partiell" von Wirklichkeit spricht, wäre zu fragen, wann ja, wann nein nicht?

(24-05-2009, 11:39)Sonne schrieb: Willst du mit deiner Frage darauf hinaus, ob es diese Wechselbeziehung auch im immateriellen Bereich gibt?
Gewiss, ich kann doch fragen: Gibt es eine rein geistige, eine nicht-materielle Wirklichkeit?

(24-05-2009, 11:39)Sonne schrieb: Willst du ein universelles Gesetz, wie ein Newton-Gesetz für die Physik, für geistige Prozesse aufspüren?
Nein. Es geht darum, was wirklich ist. Wenn ich wirklich sage, dann muss das, was die Wirklichkeit, die Realität, ausmacht, doch irgendwie wirken. Oder übersehe ich da etwas?

Und was ist mit der Umkehrung: Wenn etwas - und sei es nur vorgestellt - wirkt, gehörte es damit zur Wirklichkeit? Wenn nicht, zu welcher Kategorie dann?
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#6
Melek,
mit der Einbeziehung der kulturellen Wirkung in die Wirklichkeit könnte ich leben. Mit der Unterordnung der kulturellen Wirklichkeit unter die physikalische gebe ich dir insofern Recht, als es der physischen Ebene (gewissermaßen der Hardware) bedarf, um die kulturelle Wirklichkeit zu erzeugen.
Aber dann bekomme ich Probleme:
(24-05-2009, 16:36)melek schrieb: Folglich ist jeder Versuch , etwa eine religiöse "Wahrheit" über die physikalische Realität zu erheben - also etwa zu behaupten , der Bibelgott habe die physikalische Welt erschaffen - irgendwo lächerlich ; zumindest dann , wenn es um Erkenntnisgewinn gehen soll.
Ich glaube, hier liegt ein grundsätzliches Missverständnis vor. Die "Schöpfung" ist eine kulturelle Leistung des Menschen, nicht Gottes. Sich die Welt als eine "Schöpfung" vorzustellen, ist dasselbe, wie die Trennung der objektiven Welt (der klassischen Realität) von der Seinsweise, also jener Welt der Informationsverarbeitung, des Geistes, der Ordnung, der Planung und Nutzung. Dass Gott diese Seinsweise erschaffen hat, muss uns nicht wundern. Das ist ein frühes Bekenntnis zu Gott. Wir dürfen nicht übersehen, dass "Gott sprach ...". Sprechen ist ein menschlicher Akt, das Symbol für eine Erklärung dessen, was besprochen wird. Damit werden also Erscheinungen der Welt definiert. Licht zum Beispiel, Ordnungen, Regelmäßigkeiten kurz Dinge, die das Sein des Menschen ausmachen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass damit die "objektive Welt", wie wir sie heute verstehen, erschaffen wurde. Damit ist das Verdikt "lächerlich" sehr wohl hinfällig oder einfach die Folge einer zu simplen Auffassung dessen, was der Schöpfungsmythos uns klar zu machen versucht.

(24-05-2009, 16:36)melek schrieb: In rein kulturellem Kontext , also da wo man sich bewusst in eine kulturelle Wirklichkeit begibt , sieht es anders aus ; etwa vergleichbar mit einem Spiel , bei dem man mitwirkt und an dessen Regeln man sich hält.
Und, warum sollte dies bei religösem Mitspielen (Teilnahme am Kult) in einer Gemeinde anders sein? Wenn ja in welcher Weise?
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#7
(25-05-2009, 23:21)Ekkard schrieb:
(24-05-2009, 11:39)Sonne schrieb: Wieso betitelst du einen Kausalzusammenhang mit "Wirklichkeit" und nicht "Wirkung", "Wechselwirkung", "Beziehung" etc.?
Mir geht es tatsächlich um den Begriff "Wirklichkeit" und ich stelle diesen Begriff nicht zufällig im Forum Philosophie zur Diskussion. Was ist Wirklichkeit? Die Definition von Petronius erscheint mir angemessen. Da er aber bei "vorgestellten Dingen" nur "partiell" von Wirklichkeit spricht, wäre zu fragen, wann ja, wann nein nicht?

z.b. die vorstellung von "gott" ist nur je für eine bestimmte gruppe (einen teil der bevölkerung) "wirklichkeit" im sinne der intersubjektiven übereinstimmung
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#8
Zitat:Nein. Es geht darum, was wirklich ist.
Möchtest du diskutieren, ob es eine "Wirklichkeit" aunßerhalb der messbaren, emprischen Berfahrung gibt?
Zitat:Gewiss, ich kann doch fragen: Gibt es eine rein geistige, eine nicht-materielle Wirklichkeit?
Ist das die Frage: Gibt es einen Logos oder gibt es eine universelle nicht-materielle Wirklichkeit?
Du merkst schon, ich versuchen noch nachzuspüren, was du ganz genau meinst...

Das Leben ist doch wunderbar, drum nehm ich Psychopharmaka!
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#9
(25-05-2009, 23:49)Ekkard schrieb: Wir dürfen nicht übersehen, dass "Gott sprach ...". Sprechen ist ein menschlicher Akt, das Symbol für eine Erklärung dessen, was besprochen wird. Damit werden also Erscheinungen der Welt definiert. Licht zum Beispiel, Ordnungen, Regelmäßigkeiten kurz Dinge, die das Sein des Menschen ausmachen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass damit die "objektive Welt", wie wir sie heute verstehen, erschaffen wurde. Damit ist das Verdikt "lächerlich" sehr wohl hinfällig oder einfach die Folge einer zu simplen Auffassung dessen, was der Schöpfungsmythos uns klar zu machen versucht.

Irgendwie finde ich deine Aussagen in sich widersprüchlich .
Ich habe es als "lächerlich" bezeichnet , wenn jemand allen ernstes behauptet , daß z.B. der Bibelgott oder von mir aus auch Ptah (um bei "Gott sprach" zu bleiben) die physikalische Welt erschaffen hat .
Götter wie diese existieren und wirken nur in der geistigen Realität .


(25-05-2009, 23:49)Ekkard schrieb: Und, warum sollte dies bei religösem Mitspielen (Teilnahme am Kult) in einer Gemeinde anders sein? Wenn ja in welcher Weise?

Weil dies nicht dem Erkenntnisgewinn dient ,sondern der sozialen Ordnung.

Ein Beispiel : Ist es "Wirklichkeit" , daß Angela Merkel deutsche Bundeskanzlerin ist ?
Sicher ist es das ... oder doch nicht ?
"Wirklichkeit" wird es nur dadurch , daß sich Menschen in dieses kulturelle Spiel begeben .

Es ist jedoch keine objektive Wirklichkeit , weil sie nicht unabhängig für jeden Menschen gilt .
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#10
(24-05-2009, 10:59)Ekkard schrieb: In einem ersten Anlauf würde ich den Begriff "Wirklichkeit" dann anwenden, wenn eine Wechselbziehung zwischen verschiedenen Dingen zu erkennen ist.

Für mich besteht eine gewisse Schwierigkeit darin, dass das deutsche Wort "Wirklichkeit" - das so schön die Möglichkeit zulässt, damit "wirken" in Verbindung zu bringen - meines Wissens in andere verbreitete Sprachen gar nicht übersetzbar ist. Dort muss man "reality"("Realität") nehmen, in dem diese Assoziaton nicht vorkommt. Realität kann man also rein etymologisch nicht aus "Wirken" ableiten.

Weiter ist wichtig, dass beide Wörter - "Realität" und "Wirklichkeit" - nichts weiter sind als Begriffe, mit denen man versucht, etwas modellartig zu charakterisieren.

Man hat also die Wahl, was genau man als "Realität" bezeichnen möchte. Und da kommen dann die berühmten Prämissen ins Spiel, die offenlegen, welches Welt- und Menschenbild man hat. Davon werden die unterschiedlichen Defintiionen abhängen.

Ich sehe es aber ähnlich wie Ekkard, dass es Sinn macht, eine Art "Welchselbeziehung" in die Definition zu nehmen, da außerhalb der menschlichen Wahrnehmung Realität oder Wirkilchkeit nicht zu beschreiben ist. Das wäre eine meiner Prämissen, die in dem Fall eine anthropologische ist. Ich gehe aus vom Menschen, der etwas als real oder nicht-real wahrnimmt.


Zitat:Wie ist das aber mit Lerneffekten, Einflussnahmen, Gruppendynamik? Welche Art von Wirklichkeit umgibt uns, wenn es um geistige, vorgestellte Dinge geht?
Ist beispielsweise die Welt der Farben, der Bekenntnisse, der Wertvorstellungen wirklich?

Da wir ja nicht "Wahrheiten" klären, sondern angemessene Definitionen für Beobachtungsfelder suchen, ist die letzte Frage von der gewählten Definition abhängig.

Da ich anthropologisch denke, ist zunächst mal - in einem vorwissenschaftlichen Stadium - alles das wirkilch oder real, was ein Mensch als real erlebt. Wenn morgens ein Mensch verstört aufwacht, weil er einen Albtraum gehabt hat, dann ist diesem Menschen ja wohl kaum die Realität des Erlebnisses abzusprechen.

Träume, Albträume sind vorhanden, auch wenn dieser Punkt ->

"Universalität: Ein Experiment muss überall, zu jeder Zeit und von jedermann durchgeführt dasselbe Ergebnis haben." (http://religionsforum.de/showthread.php?tid=3183&page=3 - Beitrag 35)

hier nicht angewendet werden kann.
Albräume aber sind keine Einbildungen, denn sie verändern den Betroffenen, und sie repräsentieren auch die Realität dieses Menschen.

Hier könnte also eine interessante Arbeit starten, solchen "Realitäten" Merkmale zuzuschreiben, die zunächst induktiv aus der Praxis abgeleitet sind.

"Bekenntnisse", "Wertvorstellungen", "Glaubensüberzeugungen" - auch diese sind Teil des Menschen und verdienen, dass man jeweils Realitätsebenen definiert, denen man durch Beobachtung der Praxis Merkmale zuweist.

Damit kann es dann gelingen, das Menschenbild, das heute oft rein naturwissenschaftlich beschrieben wird - und damit seinen ideologischen Charakter verrät - um das zu erweitern, was auch im Menschen stattfindet und von der Naturwissenschaft gar nicht erfasst werden kann - da hier ja keine Experimente wiederholt werden können, dies als Beispiel.


(26-05-2009, 15:01)melek schrieb: Ein Beispiel : Ist es "Wirklichkeit" , daß Angela Merkel deutsche Bundeskanzlerin ist ?
Sicher ist es das ... oder doch nicht ?
"Wirklichkeit" wird es nur dadurch , daß sich Menschen in dieses kulturelle Spiel begeben .

Es ist jedoch keine objektive Wirklichkeit , weil sie nicht unabhängig für jeden Menschen gilt .

Es ist meines Erachtens ein Irrtum, dass Wissenschaft "objektive Wirklichkeit" festzustellen habe.
Sie kann lediglich ein Modell erstellen und dann nach festgelegten Kriterien beurteilen, ob die Kriterien erfüllt sind.

Wenn also deutlich definiert ist, was eine deutsche Bundeskanzlerin ist und überprüft wurde, ob Angela Merkel diesen definierten Kriterien entspricht, dann kann die These "Frau Merkel ist eine deutsche Bundeskanzlerin" eindeutig bejaht oder nicht bejaht werden.
Das heißt, der Richtigkeitscharakter hängt von den definierten Kriterien ab.

Und darum sind diese Defintiionen und das dahinterstehende Welt- und Menschenbild so wichtig.
Wenn jemand daher kommt und diese Kritereien anzweifelt - zum Beispiel noch bestimmte Charaktereigenschaften als Merkmal hinzufügen will -, dann kommt es eben darauf an, ob dieser jemand sich durchsetzen kann und dieses Kriterium mit aufgenommen wird. Wer weiß, dann ist Frau Merkel plötzlich keine Bundeskanzlerin mehr...

Spaß beiseite - aber bei einem "Lehrer" wird das schon unspaßiger. Wie definiert man einen Lehrer? Wann ist jemand einer, wann nicht? Ist er auch dann noch einer, wenn kein Schüler ihm mehr zuhört? Er steht dann zwar vorne und brabbelt, hat auch die Ausbildung und alles - aber reicht das für die Definition? Und ist die Forderung, es muss "intersubjektiv" sein, hier nicht der Grund für die Misere an unseren Schulen?

Aber jedenfalls ist Deine Aussage ->
'"Wirklichkeit" wird es nur dadurch , daß sich Menschen in dieses kulturelle Spiel begeben' schon nicht schlecht. Wenn Menschen dieses Spiel nicht mehr mitmachen wollen, wird es nicht mehr als Wirklichkeit anerkannt. Ein Lehrer wird dann trotz aller Zeugnisse nicht als Lehrer anerkannt.
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#11
Ist es also so, dass wir zwei Realitäten (=Wirklichkeiten) haben, denen beiden eine Beziehung zugrunde liegt:
1. die Realität, die durch messbare Wirkung gegeben ist und nicht ist, wenn diese fehlt (Beispiele: Teilchen, elektromagnetische Wellen, Materiebrocken, physikalische Kräfte)
2. die ontologische Realität, die durch menschliche Beziehung, durch Austausch von Nachrichten, Meinungen, Beschreibungen existiert? (das Merkel-Beispiel, eine literarische Figur, die Vorstellung eines Abgrundes)

Was aber ist mit Vorstellungen, die uns tyrannisieren? (das Alptraumbeispiel?) Oder umgekehrt, was ist mit Vorstellungen, die uns handeln lassen? Gehören die zu Nr. 2?
Gibt es vielleicht eine Hierarchiebeziehung zwischen 1. und 2.?
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#12
Ich gehe mal von hinten nach vorne durch:


(28-05-2009, 21:29)Ekkard schrieb: Gibt es vielleicht eine Hierarchiebeziehung zwischen 1. und 2.?

Ich habe Schwierigkeit mit dem Wort "geben". Wie soll es sie "geben", bevor ich diese Hierarchie nicht aufstelle? Das ist eben die berühmte "Wertigkeit", die der Mensch einzelnen Phänomenen zuordnet. Natürlich nicht unabhängig von der Praxis. „Wirklichkeiten“ werden zunächst ja meist nur empfunden, dann erst systematisiert.

Das ist aber - in erster Instanz - bei jedem Menschen anders. Jemand, der jeden Tag starke physische Schmerzen hat, wird vermutlich davon so beeinträchtigt, dass für ihn oberste Priorität hat, einen Arzt zu finden, der ihn davon befreien kann.
Wer als Kind über Jahre vergewaltigt worden ist, wird eventuell so von Albträumen nachts und auch im Wachen verfolgt, dass er berufsunfähig werden kann.

Da hätten wir dann das klassische Zweiermodell: Physis und Psyche. Aber es ist und bleibt ein Modell, eine Vereinfachung. Denn die Physis wird beeinträchtigt durch psychisches Leid, und physisches Leid schlägt sich auf die Psyche nieder.
Diese zwei "Realitätsebenen" sind künstlich voneinander getrennte, zunächst rein definitorisch. Hier eine allgemeingültige Hierarchisierung vorzunehmen, ist gefährlich. Denn dann meint man z.B., man habe genug getan, wenn man alte Menschen im Seiniorenheim „abfüttert“ und für Schmerztabletten sorgt. Die inneren Qualen werden gar nicht recht angegangen, wenn man die psychische Realitätsebene im Wertesystem ganz nach unten rangiert.

Ich bin allerdings der Meinung, dass eine Kultur es nicht so einfach schaffen kann, beide Realitätsebenen gleichzeitig zu „befriedigen“ und im Blick zu haben. Seit der Industrialisierung ging es erst einmal darum, physisches Leid zu überwinden, vor dem Hunger zu schützen, vor dem Massensterben. Darum hat sich meines Erachtens zunächst die „physische“ oder „materielle“ Wisenschaft entwickelt, einfach, weil sie „not tat“.

Umschlagen tut es immer dann, wenn daraus dann a-historische Dominanzsysteme entstehen, Solche Wertesysteme sind immer historisch eingebunden, und was um 1750 richtig war, kann heute genau die Kultur drosseln, kann genau das Leid der Menschen vermehren, während es um 1750 dieses Leid linderte.

Die in unserer Kultur vernachlässigte „innere Realitätsebene“ hat dann bewirkt, dass sich Subkulturen entwickelten, wo besonders das Innen gepflegt wird: man machte Anleihen bei Buddha, dem Yoga, dem Zen etc. Das wird dann nicht selten wieder verabsolutiert, und diese Gruppierungen werden das Hierachiesystem ganz anders aufstellen.
Die momentane „Fantasybewegung“ (Rowling, Tolkien, früher M. Ende) gehört in diesen Prozess auch hinein, es wird das Imaginative und Schöpferische trainiert.

Wenn man das alles in Zusammenhang sieht, dann hätte die Wissenschaft die Aufgabe, alle diese „Realitätsebenen“, die sich je in den Bedürfnissen der Menschen widergespiegelt haben, zunächst einmal zu beschreiben, so präzise wie möglich. Und zwar, wie es die Wissenschaft verlangt, ohne von vornherein zu werten und zu hierarchisieren. Auch wenn das nie gänzlich gelingt – weil der einzelne Wissenschaftler seine Prämissen nicht ganz ablegen kann -,, so muss es doch das Ziel sein. Hier normativ vorzugehen, ist das ewige Elend, das sich so leicht in die Wissenschaften reinmogelt.


Zitat:Was aber ist mit Vorstellungen, die uns tyrannisieren? (das Alptraumbeispiel?) Oder umgekehrt, was ist mit Vorstellungen, die uns handeln lassen? Gehören die zu Nr. 2?

Vermutlich reicht da das Zweiermodell – Physis und Psyche – nicht mehr aus. Die Albträume kann man vielleicht noch in die psychische Realitätsebene einordnen, wenn man ein ganzeheitliches Menschenbild dabei versucht herzustellen.
Aber „die Vorstellungen, die uns handeln lassen“ fallen in eine weitere Kategorie, denke ich. Man nennt das ja manchmal „geistig“. Wörter und Begriffe sind nicht so wichtig, wenn man definiert, was man damit meint. Ohne „Vorstellungen“ kann der Mensch vermutlich gar nicht handeln. Innere Bilder und Abläufe gehen letztlich immer dem Handeln voraus. Aber wie kann man diese Welt der Imagination, die uns jede Sekunde begleitet, merkmalsmäßig beschreiben?

Da sie aber de facto vorhanden ist – kann man an sich selbst beobachten -, ist sie ein Teil der menschlichen Realität.
Umreißen kann man diese Realitätsebene vielleicht so, dass sie futuristische oder utopische oder transzendierende Vorgänge beinhaltet. Da gehören dann alle die Vorstellungen hinein, die das Hier und Jetzt nicht als ausreichend empfinden, sondern es stets transzendieren wollen, es erweitern wollen. Vermutlich kann man da viele der religiösen und der künstlerischen Entwürfe – die dann in bildhafte Darstellungen münden .- einordnen.
Dieses transzendierende Element ist offensichtlich ebenfalls Teil der menschlichen Realität. Und sie sucht sich ihren Gestaltungsweg. Vielleicht gehört sogar die Suche nach einem befriedigenden Beruf – früher oft auch „Berufung“ genannt - in diesen Bereich.


Zitat:Ist es also so, dass wir zwei Realitäten (=Wirklichkeiten) haben, denen beiden eine Beziehung zugrunde liegt:
1. die Realität, die durch messbare Wirkung gegeben ist und nicht ist, wenn diese fehlt (Beispiele: Teilchen, elektromagnetische Wellen, Materiebrocken, physikalische Kräfte)
2. die ontologische Realität, die durch menschliche Beziehung, durch Austausch von Nachrichten, Meinungen, Beschreibungen existiert? (das Merkel-Beispiel, eine literarische Figur, die Vorstellung eines Abgrundes)

Ich selber kann mit der ontologischen Realität wenig anfangen. Mein Ansatz ist der erkenntnistheoretische, da gibt es für mich kein „Sein“ unabhängig vom Erkennen und den Erkenntnisorganen. Auch befindet sich der Mensch – und seine Kultur – immer im Prozess, meiner Beobachtung nach, und darum ändern sich die Erkenntnisergebnisse auch. Und die Gewichtungen ändern sich. Darum sehe ich die Einbeziehung der historischen Entwicklung der Wertungssyseme als so zentral an.
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#13
(28-05-2009, 21:29)Ekkard schrieb: Ist es also so, dass wir zwei Realitäten (=Wirklichkeiten) haben, denen beiden eine Beziehung zugrunde liegt:
1. die Realität, die durch messbare Wirkung gegeben ist und nicht ist, wenn diese fehlt (Beispiele: Teilchen, elektromagnetische Wellen, Materiebrocken, physikalische Kräfte)
2. die ontologische Realität, die durch menschliche Beziehung, durch Austausch von Nachrichten, Meinungen, Beschreibungen existiert? (das Merkel-Beispiel, eine literarische Figur, die Vorstellung eines Abgrundes)

realität ist im zweiten fall die tatsache, daß etwas beschrieben wurde. das beschrieben selbst besitzt deshalb noch keine realität

Zitat:Was aber ist mit Vorstellungen, die uns tyrannisieren? (das Alptraumbeispiel?)

dito. der alptraum als tatsache, geträumt zu haben, ist real. seine inhalte nicht

Zitat:Oder umgekehrt, was ist mit Vorstellungen, die uns handeln lassen? Gehören die zu Nr. 2?

im von mir erläuterten sinne natürlich. vor allem aber schaffen sie durch unser handeln ja mess- bzw. wahrnehmbares, also deine realität 1

Zitat:Gibt es vielleicht eine Hierarchiebeziehung zwischen 1. und 2.?

nö. es sind bloß verschiedene kausalzusammenhänge möglich

so kann ich mich z.b. abends meßbar überfressen, was dann alpträume zur folge hat. oder ich träume umgekehrt alp, falle dabei aus dem bett und zieh mir einen meßbaren blauen fleck am schienbein zu
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#14
Leuchtet ein, denke ich.
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#15
@ Ekkard

Nur eine kurze Frage: hast Du meinen Beitrag 12 übersehen oder bewusst unbeantwortet gelassen?

Dieser jüngst aufgemachte Thread "Wirklichkeit" im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Methodik war der Hauptgrund, weshalb ich mich registriert habe.
Aber falls das Hinterfragen des Alleinvertretungsanspruches der Naturwissenschaft unerwünscht ist, bin ich hier ohnehin falsch.
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