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Weltbilder vs. reale Welt
#1
Frieden allseits,

Mir ist in letzter Zeit öfter aufgefallen, dass die Menschen aus einer ganz konkreten Wahrnehmung heraus sprechen und/oder urteilen. Besonders oft findet sich dieses Problem als berufsbedingte Verzerrung der Sicht. Beispiel: Der Mathematiker hat oft mit Behauptungen zu tun, die er entweder widerlegen kann oder beweisen kann, also eine zweiwertige Welt, nach deren Regeln die Erziehung der Kinder fast sicher scheitern wird.
Ein weiteres Beispiel: Um die objektorientierte Sicht der Programmierung verständlich zu vermitteln, bittet der Tutor eine junge Frau nach vorne und erklärt sie (ohne sie natürlich degradieren zu wollen) zu einer Instanz des objektorientierten Klassen-Weltbildes.
Der Satz "Die Welt ist nun mal objektorientiert" ist auch schon einmal gefallen. So wird also allen Ernstes die reale Welt zu einer Instanz des objektorientierten Klassen-Weltbildes erklärt. Dieses Weltbild wird dann manchmal sogar dogmatisch vertreten und verteidigt. Das ist höchst unerfreulich, weil unwissenschaftlich und oft lächerlich. Gerade zu unserer Zeit müssen wir immer wieder verdeutlichen, was die Errungenschaft der Moderne gegenüber früheren Methoden ausmacht:

Nur eine Beobachtung, die so oft wie möglich von so vielen Menschen wie möglich geführt wurde, ist die einzige Vorgehensweise, um die reale Welt objektiver zu erfassen als bis anhin. Wer einfach etwas postuliert, weil es so schön in die Modelle (wegen der "Eleganz"), d.h. in sein Weltbild passt, handelt nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch "religiös".

Gerade diese Empfehlung kommt aber auch direkt im Koran und indirekt in der Bibel vor:

Zitat:1 Thessalonicher 5,21 Prüft alles, das Gute behaltet!

Koran 39:18 Die allem zuhören, was gesagt wird und nur dem Besten folgen, das zu Gott führt. Das sind die von Gott Rechtgeleiteten, und sie sind es, die Verstand haben.

Jetzt fragt sich der Leser vielleicht, was ich mit dem bisherigen Text erreichen will. Zu erkennen, dass der Schöpfer der Welten nicht nur ein christlicher (Stichworte: Liebe, Vater) oder islamischer (Barmherzigkeit) Gott ist, sondern gerade in den Schriften sich von diesen Begrifflichkeiten trennt. Das Gebot, sich kein Bildnis zu machen von dem, was in den Himmeln ist, bedeutet nichts anderes als sein eigenes Weltbild nicht als Postulat zu deklarieren.

qilin schrieb:Ich kann mich da an ein Gespräch erinnern, das Defoe seinem Robinson und Freitag in den Mund legt - dabei erzählt Freitag von einer Gottheit (Namen habe ich vergessen, der war etwas kompliziert) die die ganze Welt geschaffen habe, und zu der alle Dinge "Oh" sagten - ihre Weise des Gebets.
Dieser Gedanke muss also Defoe in irgendeiner Weise beschäftigt haben...
(Natürlich klärt Robinson Freitag dann auf, dass der wahre Weltschöpfer nicht diese Gottheit ist, sondern der christliche Gott... :icon_rolleyes:)

Mir fällt gerade in Bezug auf die Gottesbilder auf, dass insbesondere Christen und Muslime dazu neigen, das Gottesbild von anderen Religionen abzuschotten. Interessant ist doch dabei, dass die Juden 'Gott' als den 'Gott Israels' kennen. Wieso aber sprechen Juden häufig in einer universalen Art von Gott, doch die Christen und die Muslime, die Gott als Schöpfer der Welten nennen?
Dass im Koran lediglich "Es gibt keine Gottheit außer den Gott" als Glaubensbekenntnis erwähnt wird, irritiert die meisten Muslime, denn sie kennen das Bekenntnis in traditioneller Form etwa wie folgt: "Es gibt keine Gottheit außer Gott und Mohammed ist Sein Gesandter." Nebst dem, dass Mohammed nicht mehr ein Gesandter sein KANN, da verstorben, möchte ich noch die Reaktion der meisten Muslime erwähnen, wenn sie mit dieser Tatsache konfrontiert werden. Sie entgegnen mir meistens (wohl der erste Gedanke, der einem in den Sinn kommt aufgrund des trennungsorientierten Weltbildes), dass ja dann auch Christen und Juden in die Moscheen eintreten dürften, da sie ja auch nur an EINEN Gott glauben aber NICHT an Mohammed('s Gesandtschaft/Prophetenschaft). Ihr Weltbild, oder besser gesagt ihr Gottesbild ist vermischt mit einer menschlichen Vorstellung. Das wird vor allem dann deutlich, wenn Gott in den Medien unterschieden wird zwischen "Gott" und "Allah". Bei Gott kommt meistens das Christentum in den Sinn und bei Allah natürlicherweise der Islam, obwohl ja auch gerade christliche Araber zu Gott "Allah" sagen.

In diesen Situationen wird deutlich, dass diese Menschen anscheinend vergessen haben, was Gott im Koran sagt: Hoch erhaben ist Er über alles. Damit ist Er auch erhaben über alle Wörter, die Ihn auf keinen Fall umfassen können.

Auch fällt mir auf, dass diese trennungsorientierten Weltbilder ein Hindernis darstellen, das Weltbild des Anderen verstehen zu wollen. So scheint es unmöglich, dem durchschnittlichen Sunniten zu vermitteln, dass der Koran die Sohnschaft Jesu lediglich deshalb anprangert, um das von den Menschen konstruierte Weltbild/Modell zu kritisieren, welche mit der Bibel an sich nichts zu tun hat.
Mancher Muslim ist auf sein Weltbild dermaßen versessen, dass er sogar gewisse Koranverse falsch auslegt, um sich von anderen Religionsanhängern trennen zu können. Als Beispiel sei die falsche Auffassung erinnert, dass der Koran meine, dass die 'Dreifaltigkeit' aus Gott, Jesus und Maria bestünde, was aber natürlich in offensichtlichem Widerspruch zur Wirklichkeit steht, obwohl der Koran die Trinität und diesen Umstand der "Gottheit" Maria trennt. (Nota bene: das Wort "Gottheit" bezieht sich im Koran nicht nur auf Statuen oder Dinge, die physikalisch angebetet werden, sondern allgemein alles, was mehr Gewicht erhält als der Gottesdienst/die Gottergebenheit. Somit kann unsere Gottheit auch das Geld, die Arbeit, die Kinder etc. sein.)

Die offensichtlichen Widersprüche werden in solchen Situationen zwar erkannt, dennoch fallen gewisse Muslime in ein typisches Muster zurück, wo sie meistens die berühmte Phrase "und Gott weiß es besser" zitieren. Hauptsache ihr Weltbild bleibt erhalten, um den Rest brauche ich mich nicht zu kümmern, lautet damit die Devise.

Ich möchte den Koranvers 39:18 mit einem Beispiel erklären:
Stell dir mal vor, du trägst eine Brille, die Farben in andere umwandelt. D.h. keine der konvertierten Farben darf dominant sein, wie bei einer Sonnenbrille, sondern nur in ihren Werten anders versetzt. Du siehst blau, was ich grün sehe, und was ich rot sehe, eher orange. Da du die Brille trägst, hast du sozusagen ein anderes Weltbild gebaut, das zuvor nicht vorhanden war. Dein Vorteil ist, dass du beide Bilder (vor und nach dem Tragen der Brille) kennst und mit mehr Erfahrung bestimmen kannst, welche Sicht der Dinge besser sein könnte!

Im Grunde sagt also 39:18 nichts anders, als dass wir Empathie üben sollten, um die verschiedenen Weltsichten zu verstehen, und zwar von innen heraus. Nur die Beobachtung, die so oft wie möglich von so vielen Menschen wie möglich geführt wurde, ist die einzige Vorgehensweise, um die reale Welt objektiver zu erfassen als bis anhin.

Möge Gott uns alle dazu anleiten, uns einander besser zu verstehen, Amen.

in Frieden,
Kerem
Gottergebenheit beginnt durch Verleugnung und Hinterfragung; Ein Gott, ein Zentrum, eine gemeinsame Botschaft
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#2
Salam Kerem,

Zitat:Mir ist in letzter Zeit öfter aufgefallen, dass die Menschen aus einer ganz konkreten Wahrnehmung heraus sprechen und/oder urteilen. Besonders oft findet sich dieses Problem als berufsbedingte Verzerrung der Sicht. Beispiel: Der Mathematiker hat oft mit Behauptungen zu tun, die er entweder widerlegen kann oder beweisen kann, also eine zweiwertige Welt, nach deren Regeln die Erziehung der Kinder fast sicher scheitern wird.
Oder wenn Theologen zwangsläufig immer von Gott [d.h. ihrem Gottesbild] reden...


Zitat:Das Gebot, sich kein Bildnis zu machen von dem, was in den Himmeln ist, bedeutet nichts anderes als sein eigenes Weltbild nicht als Postulat zu deklarieren.
Ja, das haben die (christlichen wie auch islamischen) Mystiker, meist beeinflusst von der
theologia negativa, auch zum Großteil vermieden...


Dein Beispiel mit der Brille hat mich erinnert an ein Gespräch mit einem inzwischen
verstorbenen japanischen Zenmeister; der fragte mich, was ich denn wohl eigentlich sei -
Christ, Buddhist, Taoist oder was sonst. Ich antwortete ihm: "Ich glaube dass es eine
Wahrheit gibt - wenn ich die durch eine rote Brille betrachte, sehe ich eine rote Wahrheit,
nehme ich eine grüne Brille, ist die Wahrheit grün...  Ich möchte versuchen, die Wahrheit
ohne Brille anzusehen." Er lächelte und sagte: "Bis gestern war ich Buddhist, was ich heute
bin weiß ich nicht so genau - und morgen möchte ich wieder ganz von vorn anfangen..." :icon_biggrin:
() qilin
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#3
kerem schrieb:...Nur eine Beobachtung, die so oft wie möglich von so vielen Menschen wie möglich geführt wurde, ist die einzige Vorgehensweise, um die reale Welt objektiver zu erfassen als bis anhin.
Ob die Welt dann objektiver erfasst wird,
ist noch die Frage, denn alle Beteiligten gehen mit ihren Denk- und Wahrhnehmungsmustern an die Wirklichkeit heran.
Die Welt wird nie objektiv erfasst, weil im Sinne der Wahrnehmungspsychologie Wahrnehmung immer eine Konstruktion ist, die auf der Basis der jeweils aus der Kindheit und Kultur erwachsenen Modelle und Muster vorgenommen wird.

Wenn viele sich in einem Weltbild einig sind,
dann ist es nicht objektiver als bei wenigen, sondern eher "intersubjektiver" im Hinblick auf die Beteiligten, d.h. die Kommunikation über die Wirklichkeit ist zwischen denen leichter. Sie reden über den gemeinsamen Gegenstand.

Hinzu kommt noch die jeweilige Sprache,
die kulturorientiert die Welt strukturiert und kategorisiert. Ein Förster sieht in einem Wald mehr als ein Straßenbahnfahrer, weil er die einzelnen Bäume und Pflanzen benennen kann und so auch in der Wahrnehmung differenziert.

Mein Vorschlag ist darum:
Wenn wir über unsere Weltbilder sprechen, dann sollten wir uns der Bedingungen ihres Zustandekommens bewusst sein, d.h. die Muster, Mythen, Kategorien usw. kennen und bei der Wertung des Bildes und in der Kommunikation über die Gesellschaft und andere Realität berücksichtigen.
"Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche!" (Gustav Mahler nach Thomas Morus)
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#4
Frieden qilin,

Das mit den Theologen habe ich mir sogar als erstes überlegt, auch weil ich selber durch das intensive Studium der Schriften manchmal in dieses Muster falle. Die "deformation professionelle" hatte bei mir mal einen Höhepunkt erreicht, als ich zu meiner Partnerin meinte, dass Mathematik die beste Wissenschaft sei, einfach weil ich alles nur noch matheorientiert sah. :eh: Weshalb ich aber das Beispiel mit dem Theologen nicht erwähnt habe, erfolgte aufgrund meiner Kritik an Religionsanhängern allgemein.

Vielen Dank für das Beispiel mit der Brille. Das passt auch gut hierhin.

mfG und Gott segne

@ Mandingo:
Frieden und danke für deinen Beitrag,

Mandingo schrieb:... denn alle Beteiligten gehen mit ihren Denk- und Wahrhnehmungsmustern an die Wirklichkeit heran.
Die Welt wird nie objektiv erfasst, weil im Sinne der Wahrnehmungspsychologie Wahrnehmung immer eine Konstruktion ist, die auf der Basis der jeweils aus der Kindheit und Kultur erwachsenen Modelle und Muster vorgenommen wird.

Genau das wird in den Einführungsvorlesungen der Modelltheorie auch gelehrt. Um es ganz kurz zu sagen: Modelle sind Abbildung und Konstruktion der Realität. Demnach sind insbesondere Erkenntnisse Modellbildung.

Allerdings würde ich als Glaubensgrundsatz (oder wissenschaftlicher: Axiom) voraussetzen, dass es eine Wahrheit gibt. Insbesondere würde ich "Wahrheit" wie folgt definieren:

Wahrheit ist ein Sachverhalt, der für alle - unabhängig von menschlichen und/oder persönlichen Einwirkungen und/oder Entwicklungen (wie z.B. kulturelle, religiöse, subjektive Faktoren) - unter den gleichen Bedingungen stets auf eine wiedererkennbare Art erkannt werden kann, wobei 'gleich' eine vernünftige Auslassung die für den Moment auf das Ergebnis einflusslosen Unterschiede bedeutet. Es kann dabei auch unbeweisbare/nicht überprüfbare Wahrheiten geben.

Denn es gibt einen Grund, weshalb eine Frequenz bei einer Überprüfung von allen gleich erkannt wird. Wenn es keine objektive Möglichkeit gäbe, diese Welt zu ergründen, wäre Wissenschaft nutzlos.

Zitat:Mein Vorschlag ist darum:
Wenn wir über unsere Weltbilder sprechen, dann sollten wir uns der Bedingungen ihres Zustandekommens bewusst sein, d.h. die Muster, Mythen, Kategorien usw. kennen und bei der Wertung des Bildes und in der Kommunikation über die Gesellschaft und andere Realität berücksichtigen.

Mein Reden. :clap:

mfG und Gott segne,
Kerem
Gottergebenheit beginnt durch Verleugnung und Hinterfragung; Ein Gott, ein Zentrum, eine gemeinsame Botschaft
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#5
kerem schrieb:...Wenn es keine objektive Möglichkeit gäbe, diese Welt zu ergründen, wäre Wissenschaft nutzlos.
Das sehe ich anders, Kerem.
Für den Konstruktivismus in der Wahrnehmungspsychologie kann es gar keine "objektive Wahrnehmung" geben.
Auch Karl Rainer Popper geht in seiner "Objective Knowledge" davon aus, dass wir nicht bei der Wissenschaft oder sonstigen Erkenntnisgewinnung "wie in einem Kübel" objektiv (induktiv) fischen, sondern "wie ein Scheinwerfer" mit unseren Kategorien (deduktiv) in die Wirklichkeit hineinleuchten und das sehen, was dieser Scheinwerfer erhellt.

Wissenschaft, die mit ihrer jeweiligen Brille (s.o., Qilin) forscht,
ist keineswegs "nutzlos".

Sie entdeckt und modelliert die Wirklichkeit, wie sie einer Gesellschaft in ihrer Zeit und mit ihrem Zeitgeist verständlich wird. Die Gesellschaft kann solange wunderbar mit diesem Modell (z.B. Atom-Modell oder "Gott-Vater") arbeiten, wie sie damit die für sie relevanten Erscheinungen erklärt bekommt und so für sich nutzen kann. Auch die Erde als Scheibe hat eine Weile genug erklären können, dann aber nicht mehr.

Auch Mythen haben als Modelle ihren Erklärungswert
und können so einer Kulturgemeinschaft äußerst nützlich sein. Der Mythos vom "mündigen Staatsbürger" oder von der "Herrschaft des Volkes" in der Demokratie ist für uns heute sehr nützlich und erklärt viel. Aber ist er "objektiv" zu erkennen?
"Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche!" (Gustav Mahler nach Thomas Morus)
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#6
Frieden Mandingo,

Damit kommen wir sofort zur Frage der Objektivität und driften in philosophische Gewässer ab, wo es um Solipsismus, Pyrrhonische Skepsis, Relativismus, Konstruktivismus (könnte selbst als Variante des Relativismus identifiziert werden) etc. geht. Was der Konstruktivismus besagt, ist zum einen wahr und banal, und zum anderen unwiderlegbar (und damit unbrauchbar).

Wahr und trivial ist, dass wir nicht die Welt eins zu eins sehen, sondern sie abbilden (wir filtern die eingehenden Informationen), also ein Bild konstruieren. Damit ist die Welt, die wir wahrnehmen, nicht die "wirkliche" Welt. Das spielt aber überhaupt keine Rolle, denn auch in dieser (konstruierten) Welt gibt es Methoden, wie ich überprüfen kann, ob z.B. der Senf im Kühlschrank noch da ist oder nicht. Ich kann nicht nur nachsehen, und nachschmecken, sondern auch die Farbe, die Konsistenz und die Eigenschaft des Senfes nach "objektiven" Kriterien überprüfen, bis zu dem Punkte, wo ich überzeugt bin, dass ich wirklich Senf im Kühlschrank habe. Es bleibt zwar immer entweder Senf oder kein Senf, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich täusche, wird immer geringer. Ob die Welt generiert oder echt ist, hat keinen Einfluss auf die Methode der Prüfung. Da es keine andere Welt für uns gibt, ist das im Grunde also egal.

Doch das greift zu weit und ist auch eigentlich nicht das Thema, das ich anvisierte.

Zitat:Literaturtipp:
Nach Ansichten einiger Naturwissenschaftler sind die Sozial- und Geisteswissenschaften und die Philosophie zur Zeit von konstruktuivistischem und relativistischem Gedankengut regelrecht durchtränkt, und sie empfinden dies als einen Mangel und eine Gefahr für die Wissenschaft und ihre Stellung in der Gesellschaft. Dass der Kaiser nackt ist und der postmoderne Jargon mehr oder weniger aus Wortblasen besteht, zeigte der Physiker Alan Sokal in einem mittlerweile berühmten "Experiment": Er schrieb ein Essay über die "transformative Hermeneutik der Quantengravitation", das im wesentlichen eine Aneinanderreihung der peinlichsten Aussagen postmoderner Philosophen darstellte, vermengt mit eigenen Imponierphrasen. Das Essay wurde in der renommierten Fachzeitschrift Social Text veröffentlicht und ernsthaft diskutiert, ehe Sokal damit rausrückte, was er eigentlich mit dem Essay bezweckt hatte. Seine "Richtigstellung" wollte Social Text dann allerdings nicht mehr drucken. Gemeinsam mit Jean Bricmont veröffentlichte Sokal sein Essay zusammen mit einer Analyse der Texte einiger in Fachkreisen hochgeschätzter postmoderner Philosophen: Sokal, A. & Bricmont, J. (1999). Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen. München: Beck.

mfG und in Frieden,
Kerem
Gottergebenheit beginnt durch Verleugnung und Hinterfragung; Ein Gott, ein Zentrum, eine gemeinsame Botschaft
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#7
kerem schrieb:...Im Grunde sagt also 39:18 nichts anders, als dass wir Empathie üben sollten, um die verschiedenen Weltsichten zu verstehen, und zwar von innen heraus. Nur die Beobachtung, die so oft wie möglich von so vielen Menschen wie möglich geführt wurde, ist die einzige Vorgehensweise, um die reale Welt objektiver zu erfassen als bis anhin.
Wenn das der Kern deines Argumentations-Ziels ist,
dann verstehe ich nicht, warum du z.B. Popper nicht akzeptierst. Ich habe nicht die sog. Postmoderne gelobt oder irgendetwas sagen wollen, auf das die Kritik in deinem obigen "Literaturtipp-Zitat" zutrifft. Es ist keineswegs banal, sich klar zu machen, dass man gar nicht anders kann, als mit seinen Mustern und Kategorien deduktiv an die Realität heranzugehen. Selbst Senf erkennen wir nach den Geschmacks-, Farb-, Konsistenz-Kategorien unserer Kulturgemeinschaft.

Dein zweiter Satz im obigen Abschnitt ist einfach falsch:
Eine Beobachtung wird nicht objektiver, je mehr Menschen sie durchführen. Die Menge macht es nicht. Zu den Ergebnissen einer Welt-Erfassung müssen wir die Methoden und Kategorien ihrer Gewinnung kennen, sonst sagen sie uns nicht genug, schon gar nichts "Objektives."

Wenn ich die verschiedenen Methoden, Bedingungen, Zeitgeistbezüge usw. einer Weltsicht berücksichtige,
dann ist das für mich die notwendige "Empathie von innen", die du im 39:18 zu erkennen meinst.
Das ist der Weg, um den Weltsichten unterschiedlicher Gruppen und Individuen gerecht zu werden und an deren Kommunikation teilzunehmen.
Es geht ja nicht darum, sich beim Senfholen zu verstehen, sondern in seinen Glaubens-Aussagen, seinen Mythen, Symbolen usw..
Um diese angemessene Kommunikations-Teilnahme geht es in Religionen und in deren Rückgriffe auf ihre eigenen Wurzeln. Texte sind schließlich Kommunikations-Dokumente und wir erkennen die Weltbilder unserer Religionen nun einmal nur in Texten (auch nonverbalen), in Sprache und und Zeichen und sonst nichts.

Da landen wir auch in der sog. "historisch-kritischen Methode"
bei der Bibel-Exegese oder auch der des Koran, wie z.B. der aus Kairo verstoßene Nasr Hamid Abu Zaid es fordert. Nur so kommen wir zur angemessenen Übertragung alter Weisheiten in unsere Zeit oder besser alter Glaubensbekenntnisse in solche unserer Zeit und vor allem dazu, diese zu verstehen.
Wenn Religionsvertreter sich das alle klar machten und zu den Regeln ihrer Religionsausübung zählten, brauchten wir uns über Toleranz-Mangel nicht zu beklagen.
"Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche!" (Gustav Mahler nach Thomas Morus)
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#8
Die Frage nach "Objektivität", kerem und mandingo, stellt sich so nicht - der Mensch ist nicht objektiv; er kann es garnicht sein, denn der Mensch "trägt" seine Gefühle, seine Bildung, seine Traditionen, seine Glaubensvorstellungen bei jeder "objektiven" Bewertung mit sich herum.

Es verhält sich mit der "Objektivität" genauso wie mit der "Wahrheit"; absolut objektiv und absolut wahr aus menschlicher Perspektive ist alleine Gott. Der Mensch selbst kann allenfalls Teile göttlicher Objektivität und göttlicher Wahrheiten erfassen, nie aber Vollständigkeit oder Vollkommenheit erlangen.
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#9
t.logemann schrieb:Die Frage nach "Objektivität", kerem und mandingo, stellt sich so nicht - der Mensch ist nicht objektiv; er kann es garnicht sein, denn der Mensch "trägt" seine Gefühle, seine Bildung, seine Traditionen, seine Glaubensvorstellungen bei jeder "objektiven" Bewertung mit sich herum.
Genau das, lieber Thoma,
steht in den obigen Beiträgen!
Die Frage nach der Welt-Erfassung stellt sich darum aber um so dringlicher.
"Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche!" (Gustav Mahler nach Thomas Morus)
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#10
Kann, lieber Mandingo, das Unerfassbare erfasst werden? Ist die von uns wahrgenommene Realität tatsächlich real.....? Ist die Farbe "blau" nicht nur deshalb "blau", weil wir sie subjektiv als "blau" definieren - ist es in der realen Wirklichkeit nicht "grün"; ist der Begriff "Farbe" überhaupt "real"....?
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#11
Ich behaupte - und gehe damit mit Mandingo einig -: die Realität ist eine Erfindung unseres Geistes (genauer unseres Gehirns). Sie besteht aus einer schier unübersehbaren Menge an Modellen, die wir entweder vom Genotyp aus besitzen oder uns angelernt haben. Diese Modelle werden im Idealfall den Erfahrungen - oder im wissenschaftlichen Experiment den Ergebnissen angepasst.
Soweit der Idealfall. Es gibt leider(?) eine zusätzliche Variante: die Angleichung an kulturhistorische Haltungen (Ideologien), erkennbar an Sprüchen wie: "Es kann doch nicht sein, dass ...", "das macht man doch nicht ..." oder "alle machen das so!"
Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn Urteile gefällt werden (müssen). Urteile bzw. ihre Außenwirkung gehören zu den menschlichen Machtinstrumenten, mit denen wir unsere Welt manipulieren, die Mitmenschen eingeschlossen.

Objektivität ist die immer vorläufige Haltung, die sich an aufzählbaren Eigenschaften orientiert, und sich jedem weiteren Urteil enthält. Wegen der stetigen Anpassung an die Erfahrung (Messergebnisse) kann die Beurteilung eines Sachverhalts als "objektiv" immer nur unter Vorbehalt weiterer Erfahrungen gelten. Häufig wird dies schamlos verschwiegen - die kontroversen, zum Teil gehässigen Diskussionen im Umfeld der Weltanschauungen zeigen wie schamlos!
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#12
t.logemann schrieb:Kann... das Unerfassbare erfasst werden?
Das Unerfassbare liegt definitiv außerhalb der menschlichen Fähigkeiten und ist damit dem Dialog (der Kommunikation) entzogen.
t.logemann schrieb:Ist die von uns wahrgenommene Realität tatsächlich real.....?
Wenn man an das Urteil: "Jener Sachverhalt ist gegeben" keine unüberwindlichen Maßstäbe anlegt, kann er unseren Modellvorstellungen entsprechend als "real" eingestuft werden. Aber eben unter dem Vorbehalt weiterer Erkenntnisse (siehe meinen vorhergehenden Beitrag). Es ist beispielweise unsinnig einem vor mir (und anderen) liegenden Stein als nicht real einzustufen.
t.logemann schrieb:Ist die Farbe "blau" nicht nur deshalb "blau", weil wir sie subjektiv als "blau" definieren - ist es in der realen Wirklichkeit nicht "grün"; ist der Begriff "Farbe" überhaupt "real"....?
Vorsicht: Eine bestimmte Farbe z. B. "blau" ist ein Urteil. Urteile sind von angeborenen oder angelernten "Wahrnehmungsfiltern" abhängig (was in vorhergehenden Beiträgen bereits festgestellt wurde).

Urteile können, wenn sie zwischen nahezu allen Menschen gleichartig kommuniziert werden, intersubjektiv "angemessen" sein - aber eben nur innerhalb der Spezies (hier Mensch). Dem Farburteil "blau" liegen eine Reihe von physikalischen Gegebenheiten zugrunde.
Es gibt also keine Realität namens "Blau" sondern nur Lichtwellen, chemisch gebundene Elektronen und deren ziemlich komplexe Wechselwirkungen mit Licht - und dies alles sind vorläufige, bestangepasste Modelle und nichts weiter. Aber allein das ist unsere Wirklichkeit. Eine andere haben wir nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
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#13
Frieden allerseits,

Mir war schon bewusst, dass dieses Thema auch in philosophisch-wissenschaftlicher Sicht behandelt werden kann, was jedoch nicht unbedingt meine Absicht war. Ich denke, kürzer und treffender als es Ekkard schrieb, ist der Sachverhalt nicht zu beschreiben: Aber allein das ist unsere Wirklichkeit. Eine andere haben wir nicht. Deshalb spielt es für mich überhaupt keine Rolle, ob diese Welt, in der wir leben, eine gedachte, generierte, eine uns vorgegaukelte oder z.B. auch nur ein Traum eines Verrückten ist. Die Methoden bzw. die Modelle bleiben stets dieselben und ihre Gültigkeit passt. Ich bin in wissenschaftlicher Hinsicht genauso naiv wie Alan Sokal und glaube, dass es ergründbare Wahrheiten gibt. Diese Grundhaltung habe ich durch das Studium der Mathematik erlangt: wie ist es möglich, dass die Mathematik so hervorragend zur Beschreibung der realen Welt taugt? Und auch, weil ich daran glaube, dass Gott uns Antworten gibt, wenn wir nur Geduld haben und hart an den Fragen arbeiten und oft genug nachdenken bzw. phantasieren (Einstein).

Vielleicht noch eine Ergänzung zu Modellen, da das hier bereits ausführlich eingeführt wurde. Das gemäß einem Modell konstruierte System wird durch seinen Einsatz selbst ein Teil der Realität und beeinflusst/verändert den modellierten Problembereich. Das sollte vielleicht in dieser Diskussion nicht vergessen werden.

Mandingo schrieb:Dein zweiter Satz im obigen Abschnitt ist einfach falsch:
Eine Beobachtung wird nicht objektiver, je mehr Menschen sie durchführen. Die Menge macht es nicht. Zu den Ergebnissen einer Welt-Erfassung müssen wir die Methoden und Kategorien ihrer Gewinnung kennen, sonst sagen sie uns nicht genug, schon gar nichts "Objektives."

Stimmt. Ich hatte beim Schreiben des Satzes auch mehr im Sinn, was eigentlich genau das verhindern sollte, was du jetzt verstanden hast. Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Ich denke aber, dass der Grundgedanke dennoch erkennbar ist.

Zitat:Wenn Religionsvertreter sich das alle klar machten und zu den Regeln ihrer Religionsausübung zählten, brauchten wir uns über Toleranz-Mangel nicht zu beklagen.

Dann bleibt uns nur übrig, diese Idee nur oft genug zu wiederholen, damit es wirklich viele verstehen.

Goethe an Eckermann:
Man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse, in Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universtitäten. Überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.
Gottergebenheit beginnt durch Verleugnung und Hinterfragung; Ein Gott, ein Zentrum, eine gemeinsame Botschaft
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