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Tacitus und Sueton - im Mittelalter erfunden?
#16
@Helmut-Otto: Nun, ein Professor fuer die Geschichte Sumers wird wohl kaum irgendetwas zu Buch 10 von Plinius sagen koennen, was ueber die Ansicht interessierter Laien hinausgeht, ausser, dass er hoffentlich etwas ueber allgemeine historische Methoden weiss.

Ausserdem sollte man nicht die falsche Frage stellen. Gab es Faelschungen von Texten im Mittelalter? Klar, massenhaft sogar. Bei den meisten dieser Faelschungen ging's aber um Macht und Geld. Und natuerlich verraten sie sich meist, weil die mittelalterlichen Autoren halt kein klares Bild der Antike mehr hatten (siehe die konstantinische Schenkung als ein Beispiel, das sich klar als Faelschung zu erkennen gibt).

Letztlich bleibt einem nichts anderes uebrig, als jedes Dokument fuer sich zu betrachten und die jeweils zur Verfuegung stehende Evidenz einzuordnen. Bei Tacitus faellt die Ueberpruefung zugunsten der Echtheit aus. Bei anderen Texten sieht das dann im Einzelfall anders aus. Das Testimonium Flavianum ist auch ein Beispiel dafuer, dass durchaus auch Gemengelagen - also Teilfaelschungen - in Betracht gezogen werden muessen.
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#17
Vielleicht noch mal zwei Anmerkungen:

1. Du argumentierst hier nach dem Motto "Es gibt Faelscherbanden und staatliche Akteure, die Bargeld faelschen; also ist alles Bargeld falsch". Das ist offensichtlich ein logischer Fehlschluss.

2. Dass Originale nach dem Kopieren, auch durch Gelehrte, weggeworfen wurden, war bis in die Renaissance gaengige Praxis. Warum den beschaedigten Text aufbewahren, wo man doch jetzt eine neue, gut lesbare Kopie hatte? Bei der Tora war das sogar mit einem "Begraebnis" der alten Textkopie verbunden, aber wie gesagt, das war auch unter Gelehrten vollkommen normal und an und fuer sich kein Zeichen einer Absicht, etwas zu vertuschen. Modernes historisches Denken war den Menschen damals fremd, und man hatte wohl auch nicht die Moeglichkeiten, eine vor sich hin rottende Kopie zu bewahren.

Zum Glueck war Pergament z.B. so wertvoll, dass es meist nicht einfach weggeworfen wurde. Z.B. - weil Simonides da hineinspielt - gibt es beim Codex Sinaiticus genuegend Seiten, die in den Einbaenden anderer Buecher gefunden wurden, dass klar ist, dass die spaeter von Simonides aufgebrachte Faelschungsgeschichte, mit der er Tischendorf eins auswischen wollte, nicht stimmt. Trotzdem erklaert das natuerlich Konferenzen wie die verlinkte. Da Simonides mit der Luegerei nie aufhoerte, muessen die Experten das halt aussortieren.
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#18
(10-01-2022, 16:47)Helmut-Otto Manning schrieb: Ein Professor für die Geschichte Sumers sagte mir, gerade das Buch 10 sei nicht glaubwürdig. Die Fragen, mit denen  er als hoher Beamter den Kaiser belästigt, hätten ihm ein Treffen mit den Löwen im Colosseum eingebracht.
Die Vorstellung, dass Trajan einen Senator, Konsular und Propraetor wegen "Belästigung mit Fragen" zum Tod in der Arena verurteilt, ist von kaum überbietbarer Absurdität und Lächerlichkeit. Für die Entstehung dieser Idee fallen mir drei Erklärungsmöglichkeiten ein: (1) eine déformation professionnelle - als Altorientalist beschäftigt man sich ja beruflich mit absolutistischen Despoten und vergisst dann vielleicht den Unterschied zwischen einem solchen Herrscher und einem princeps der Adoptivkaiserzeit; (2) sein Bild von der Prinzipatsepoche könnte von miesen Spielfilmen geprägt sein; (3) er könnte Trajan mit Caligula verwechselt haben, weil ihn römische Geschichte nie besonders interessiert hat.
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#19
(10-01-2022, 16:27)Ulan schrieb: Dass Tacitus sich bei seiner Recherche zu Christen irgendeine grosse Muehe gemacht haette, nehme ich jetzt nicht an. Er stellt fest, dass die Christen selbst zugeben, der Fanclub eines verurteilten Schwerkriminellen zu sein, womit sich fuer ihn jegliches weitere Faktenchecken wohl erledigt hatte.

Was denkst Du zu Buch 10 von Plinius dem Juengeren, in dem es um eine Christenverfolgung geht, um das Thema des Threads ein wenig weiter zu fassen: Faelschung?
Ich gehe davon aus, dass Tacitus über einen im Wesentlichen zutreffenden Kenntnisstand verfügte. Einleuchtend finde ich den Hinweis von Van Voorst, dass Tacitus als Mitglied der quindecimviri sacris faciundis, die für die Überwachung der stets misstrauisch beobachteten fremden Kulte in Rom zuständig waren, sich von Amts wegen über den Ursprung dieses Kults und die bisherigen Aktivitäten der Christen in Rom informiert hatte. Allerdings ist auch hier zu beachten, dass er mitnichten sine ira et studio schrieb.

Hinsichtlich Buch 10 sehe ich keinen überzeugenden Grund, die Echtheit der Briefe pauschal zu bezweifeln, wenngleich natürlich stilistische Eingriffe oder Weglassungen nicht auszuschließen sind. Speziell zu Brief 96 gibt es ja die neueren Zweifel von Tuccinardi (https://academic.oup.com/dsh/article-abs...m=fulltext; Zusammenfassung hier: https://vridar.org/2016/02/17/fresh-doub...hristians/), der allerdings den Brief nicht für unecht, sondern nur für interpoliert erklärt und die mutmaßlichen Interpolationen nicht spezifiziert, da seine Analysemethode das nicht hergibt; außerdem bezieht sich der Zweifel nicht auf den Antwortbrief 97. Ich neige eher zur Skepsis von Hurtado (https://larryhurtado.wordpress.com/2016/...ans/#_edn2).
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#20
@Apollonius: Meine Bemerkung bezueglich Tacitus betraf den Anreiz, christliche Angaben zu ueberpruefen. Wenn Christen selbst von sich sagen, dass sie einen verurteilten Kriminellen verehren, muss man nicht nachpruefen, ob das irgendeine Verleumdung durch eine interessierte Partei ist; man kann das dann so akzeptieren (also im Prinzip so etwas wie das "argument from embarrassment", was auch immer das auf Deutsch war). Wer so etwas selbst freiwillig zugibt, wird wohl nicht luegen.

Ich stimme zwar mit Hurtado haeufiger nicht ueberein als dass ich seine Argumentation fuer richtig halte, aber so richtig trauen tu ich diesen mathematischen Modellen, die zum Teil auf recht willkuerlich ausgesuchten Daten beruhen, auch nicht. Die sollen so etwas wie Objektivitaet suggerieren, waehrend die Subjektivitaet schon in der Datenauswahl steckt. Vor allem, wenn es um ein Thema geht, das ansonsten im Textkorpus nie auftaucht, sind Unterschiede zu erwarten. Die Einwaende, die Hurtado hier macht, sind durchaus valide, soweit ich das sehe. Seiner Interpretation muss man natuerlich nicht folgen.
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#21
(10-01-2022, 16:47)Helmut-Otto Manning schrieb: Wenn man das hier zur Kenntnis nimmt, ist es nicht abwegig, auch die "Abschriften" zu bezweifeln:

https://idw-online.de/de/news42283
Hier liegt ein methodischer Fehler vor: Urkundenfälschung ist etwas völlig anderes als Erfindung von juristisch längst nicht mehr relevanten Briefen historischer Personen. Dass Urkundenfälschung im Mittelalter gängige Praxis war und insbesondere zahlreiche Merowingerurkunden gefälscht sind, ist längst bekannt, und niemand bezweifelt, dass es jederzeit unzählige skrupellose Fälscher gab. Aber die Urkundenfälschung hatte stets klar erkennbare und gut nachvollziehbare Motive - es ging immer um handfeste materielle Vorteile oder um Erhöhung von Ansehen und Macht der eigenen Institution. Letzteres gilt auch für die zahllosen frei erfundenen Geschichten in der Hagiographie. Mittelalterliche Gelehrte hatten aber keinerlei Motiv, pseudoantike Texte mit wüsten Beschimpfungen gegen ihren heiligen Glauben zu erfinden. Eine solche Hypothese müsste mit sehr starken Indizien plausibel gemacht werden. Davon ist aber weit und breit nichts zu sehen.

Wie glaubhaft eine Fälschungshypothese ist, hängt insbesondere davon ab, ob sie konkrete, plausible Antworten auf die Fragen hat: Wer hat gefälscht, oder zumindest: in welchem konkreten Milieu ist der Fälscher zu suchen, und warum hat er gerade diesen Text mit genau diesen Aussagen und Formulierungen verfasst?  Wenn der Text keine spezifischen, evidenten inneren Verdachtsmomente aufweist, liegt die volle Beweislast bei dem, der die Echtheit anzweifelt. 

Ohne dein Buch gelesen zu haben, habe ich doch anhand deiner bisherigen Ausführungen den starken Verdacht, dass du dich beim Versuch, deine Hauptthese "Von Jesus kein Lebenszeichen" zu beweisen, gewaltig verrannt hast; dass du, um die Fiktionalität von Jesus zu beweisen, ein Gebäude von fragwürdigen oder nachweislich falschen Annahmen konstruiert hast, das bei wissenschaftlicher Betrachtung zu Staub zerfällt. Ich sage voraus, dass sich dasselbe für Mohammed herausstellen wird, wenn man die Behauptung seiner Fiktionalität wissenschaftlich unter die Lupe nimmt - was Thema eines separaten threads wäre.
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#22
(11-01-2022, 17:01)Apollonios schrieb: Ich sage voraus, dass sich dasselbe für Mohammed herausstellen wird, wenn man die Behauptung seiner Fiktionalität wissenschaftlich unter die Lupe nimmt - was Thema eines separaten threads wäre.

Den Thread gibt's aus gegebenem Anlass schon: Mohammed. Eine historische Person?
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#23
(10-01-2022, 17:40)Ulan schrieb: Dass Originale nach dem Kopieren, auch durch Gelehrte, weggeworfen wurden, war bis in die Renaissance gaengige Praxis. Warum den beschaedigten Text aufbewahren, wo man doch jetzt eine neue, gut lesbare Kopie hatte? Bei der Tora war das sogar mit einem "Begraebnis" der alten Textkopie verbunden

Mir ist bekannt, dass sie einmal eine unvorstellbar wertvolle Bibliothek des antiken Judentums fanden, begrabene, durch die ständige Verwendung nicht mehr ordentlich lesbare Thorarollen.
Die Juden vernichten solche alte heilige Schriftrollen nicht, sondern vergraben sie pietätvoll im Sand
Von Zeit zu Zeit findet man so etwas zufällig, etwa wenn ein altes Wirtschaftsgebäude niedergerissen wird, das auf dem Fundament einer längst vergessenen Synagoge steht*


(10-01-2022, 17:40)Ulan schrieb: Zum Glueck war Pergament z.B. so wertvoll, dass es meist nicht einfach weggeworfen wurde. Z.B. - weil Simonides da hineinspielt - gibt es beim Codex Sinaiticus genuegend Seiten, die in den Einbaenden anderer Buecher gefunden wurden . . .

Kommt eigentlich das Wort Pergament von Pergamon ?
Dort gab es ja einen berühmten Altar und einen mächtigen Kult


--

*) Wie ist eine vergessene Synagoge überhaupt möglich ?
Beispielsweise wurden die Juden 1290 alle aus England vertrieben. Die Synagogen wurden wohl nicht niedergerissen, sondern als Wohnhäuser verwendet. Arme gab es immer! Und wenn kein Mensch darin hausen wollte, dann verwendete man diese Häuser zumindest als Geräteschuppen oder Viehställe
Nach einigen Jahrhunderten wußte kein Christenmensch mehr, dass das alte Bauwerk einst eine Synagoge gewesen ist. Und Juden waren ja keine mehr in England. (Sie wurden erst nach 1648 durch Cromwell zurückgerufen.)
Die wieder ins Land gekommenen Juden erkannten in den alten Gemäuern keine ehemaligen Synagogen.
Wenn dann im 20. Jahrhundert ein altes baufälliges Gebäude niedergerissen wird, ist das oft eine Fundgrube für Archäologen.
Bauarbeiter werden - so gut das geht - dazu angehalten, sofort den Chef zu rufen, wenn sie was finden. Aber die Baufirma unterdrückt gerne solche Funde, um das Bauvorhaben nicht zu gefährden!
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#24
(12-01-2022, 21:48)Sinai schrieb: Mir ist bekannt, dass sie einmal eine unvorstellbar wertvolle Bibliothek des antiken Judentums fanden, begrabene, durch die ständige Verwendung nicht mehr ordentlich lesbare Thorarollen.

Geniza
Die bekannteste Geniza (in Kairo) ist ausfuehrlich dort behandelt.

(12-01-2022, 21:48)Sinai schrieb: Kommt eigentlich das Wort Pergament von Pergamon ?
Dort gab es ja einen berühmten Altar und einen mächtigen Kult
Vor allem gab's da eine grosse Bibliothek, die mit der in Alexandria in heftiger Konkurrenz um Schriften und fachkundigem Personal stand.
Eine von Plinius dem Aelteren ueberlieferte Notiz besagt, dass Aegypten die Ausfuhr von Papyrus untersagte, um die  Bibliothek in Pergamon vom Nachschub abzuhaengen, und Pergamon zum Ausgleich das Pergament erfunden haette (siehe hier).

Zum Rest: Bitte beim Thema bleiben.
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