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Tacitus und Sueton - im Mittelalter erfunden?
#1
(03-01-2022, 02:32)Helmut-Otto Manning schrieb: @Ekkard: Anstrengend bin ich nur für Menschen, die unsichtbare, fliegende Zauberer für real halten und deren unhaltbare Tradierung für echt. Sueton ist ein Werk des 9. Jahrhunderts, Josephus des 11. Jahrhunderts und Tacitus brauchte noch weitere 300 Jahre, um von Klerikern "gefunden" zu werden.

Wenn neuerdings herausgefunden worden ist, dass Tacitus und Sueton nie gelebt haben, vielmehr im Mittelalter erfundene Gestalten sind, dann können die Christen, was die angezweifelte historische Realität ihres Helden betrifft, konstatieren: Er befindet sich diesbezüglich in bester Gesellschaft. Zu erwarten wäre, dass Althistoriker und Klassische Philologen angesichts dieser umstürzenden Entdeckungen etwas enttäuscht sind, vor allem hinsichtlich Tacitus, und auch dem Josephus ein wenig nachtrauern. Bisher ist allerdings in der Fachwelt die Resonanz auf die sensationellen Entdeckungen so extrem leise, dass sie auch mit feinstem Gehör nicht wahrnehmbar ist. Da sieht man, wie verbohrt die Altertumswissenschaftler sind: Die wollen sich einfach nicht von ihren geliebten Autoren trennen.

In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erregte die These vom "Erfundenen Mittelalter" einiges Aufsehen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Erfundenes_Mittelalter. Jetzt, im frühen 21. Jahrhundert, kommt die erfundene Antike hinzu. Das sagt etwas aus über die Epoche, in der solche Entdeckungen gemacht worden sind. 

Nach der These vom Erfundenen Mittelalter hat das 9. Jahrhundert nicht existiert - die Chroniken, die davon berichten, wurden auf Veranlassung späterer Kaiser gefälscht, in Kollaboration mit dem Papst. Somit wurde die erfundene Antike, was Sueton betrifft, während des erfundenen Mittelalters erfunden. Man sieht also: die unsichtbaren, fliegenden Zauberer hat es tatsächlich gegeben: Es sind die Erfinder der fiktiven Gestalten. Unsichtbar sind sie, weil niemand sie kennt; Zauberer sind sie, weil sie Tacitus, Josephus und Sueton hervorgezaubert haben; und fliegend sind sie, weil sie elegant kreuz und quer durch die Jahrhunderte fliegen.
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#2
eine bemerkenswerte analyse, chapeau!
einen gott, den es gibt, gibt es nicht (bonhoeffer)
einen gott, den es nicht gibt, braucht es nicht (petronius)
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#3
klingt nach einer Bereicherung für jede Schreiberclique.
Schade eigentlich das Sinai die Gelegenheit ausgelassen hat, so einen "echten Fremdenlegionär" zu befragen und stattdessen, mal wieder Urlaub macht wenn ich da, so richtig sehe.
Als stetig abgehender Bartender der weltgeschichtlichen Theater-Desaster und alltäglicher Reiseerlebnischilderer muss ich wohl lernen, mich in Zukunft Montags etwas kürzer zu fassen.
Die Profipseudonymanlageberaterin würde ich jedenfalls auch nicht verklagen, wenn ich Ekkard wäre :)
Bringt mich zusammenfassend und nach freundlichem Hallo! zur Frage nach den erlaubten Haustieren im Hause Manning?

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#4
Die Überlieferungen haben einen solchen zeitlichen Abstand zu den behaupteten Autoren, dass Zweifel angebracht sind.
Bei Tacitus hat sich sogar der sensationelle "Fund" in nichts aufgelöst. Nur die "Abschrift" Poggios ist noch da!

Manning
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#5
(09-01-2022, 21:51)Helmut-Otto Manning schrieb: Die Überlieferungen haben einen solchen zeitlichen Abstand zu den behaupteten Autoren, dass Zweifel angebracht sind.
Bei Tacitus hat sich sogar der sensationelle "Fund" in nichts aufgelöst. Nur die "Abschrift" Poggios ist noch da!

Manning

Eine knappe Widerlegung der Fälschungshypothese, was Tacitus betrifft, hat Roger Pearse online gestellt: *https://www.tertullian.org/rpearse/tacitus/ Seine Argumentation ist zwingend; obwohl sie keineswegs alles umfasst, was sich dazu vorbringen ließe, reicht sie doch völlig aus, ein overkill muss nicht sein. Wer einen solchen dennoch für nötig hält, findet das einschlägige Material bei Clarence Mendell: Tacitus, the man and his work, New Haven 1957. Die Vorstellung, dass großer zeitlicher Abstand zwischen der ältesten handschriftlichen Überlieferung und der Lebenszeit des Autors per se einen Grund für Zweifel an der Qualität der Überlieferung und der Echtheit des Werks oder gar der Historizität des Autors bilde, ist methodisch grundfalsch; das ist vor-lachmannsches philologisches Denken und als solches seit mehr als anderthalb Jahrhunderten überholt und aus der philologischen Wissenschaft verbannt. Das Prinzip, das dem wissenschaftlich definitiv etablierten, vielhundertfach als zutreffend erwiesenen Grundsatz recentiores non deteriores zugrunde liegt, ist in einem Fall wie diesem sinngemäß analog anzuwenden. Dass Poggios Fund (der Hersfelder Codex) sich "in nichts auflöste", d.h. verschollen ist, ist nicht verdächtig, sondern ganz normal: Manche Humanisten pflegten eine mittelalterliche Handschrift, nachdem sie den Text kopiert (und emendiert) hatten, wegzuwerfen oder zumindest zu verschlampen, denn die Idee war, dass man den Text ja nun hatte. Unzählige mittelalterliche Handschriften sind aus verschiedensten Gründen noch in der Neuzeit zerstört worden oder verschollen. Somit ist am Verschwinden des Hersfelder Codex gar nichts verdächtig. Außerdem befindet sich die Stelle, wo Tacitus auf Christus und die Christen Bezug nimmt, im 15. Buch der Annales und ist im Text dieses Buchs im Codex Laurentianus 68.2 (fol. 38r) überliefert, der paläographisch ins 11. Jahrhundert datiert werden kann, also keinesfalls von Poggio angefertigt wurde. Was sich "in nichts auflöst", ist somit nicht die Hersfelder Handschrift, sondern die Hypothese, das Werk des Tacitus sei eine Fälschung. Analoges ließe sich für Sueton und Josephus zeigen, aber ich will nicht weitschweifig werden. Das Beispiel Tacitus ist instruktiv genug. Es zeigt (wie so oft): Das seit langem etablierte Standardkonzept der seriösen Forschung ist sehr solid begründet und die Alternativhypothese erweist sich schnell und aus vielen Gründen als Luftschloss.

Wobei übrigens die Idee, nicht einfach nur die Stelle auf fol. 38r als Interpolation zu erklären, sondern gleich alle Werke des Tacitus und ihn selbst als historische Person ins Reich der Fiktion zu verbannen, die Alternativhypothese ganz besonders angreifbar macht. Insoweit es um die Christus-Stelle geht, ist die Interpolationshypothese natürlich weit eleganter, jedenfalls nicht auf Anhieb als absurd abzuweisen; aber auch sie ist widerlegt, siehe die von mir genannte Literatur. 

Es geht mir hier nicht nur um das Spezialthema Tacitus und Annales 15,44. Der Fall ist exemplarisch als "Zusammenstoß" zwischen einem etablierten, von den Fachleuten allgemein akzeptierten Standardmodell und einer neuen Alternativhypothese, die das Standardmodell vom Tisch wischen soll, was bewirken würde, dass Lehrbücher und Schulbücher neu geschrieben werden müssten - eine Revolution. Solche Zusammenstöße enden gewöhnlich mit dem Sieg des etablierten Konzepts. Und das eben nicht, weil die Professorenzunft reflexartig etwas Neues ablehnt, insbesondere wenn es von einem Außenseiter kommt. Vielmehr ganz einfach, weil die Vertreter des etablierten Konzepts die besseren Argumente haben, methodisch sattelfester sind und sich in den Details besser auskennen. Dabei lebt Wissenschaft von Kritik, auch kühner und fundamentaler Kritik, die auch Grundlagen in Frage stellt. Solche Kritik kann durchaus Fortschritt bringen. Daher sollten Außenseiterhypothesen willkommen sein. Das Problem ist nur, dass sie sehr oft - und da ist der Fall Tacitus ein typisches Beispiel - miserabel begründet sind. Da ein Fachwissenschaftler das schnell erkennt, macht er sich gewöhnlich nicht die Mühe einer Widerlegung, denn das erscheint ihm als Zeitverschwendung. Sein Misstrauen gegen Außenseiter wächst durch solche Erfahrungen. Der Außenseiter seinerseits betrachtet das als Arroganz einer Gelehrtenkaste, die keine Irrtümer zugeben wolle und den Dialog verweigere. So verfestigen sich die Haltungen auf beiden Seiten. Wer ist daran schuld? Meines Erachtens hauptsächlich diejenigen Außenseiter, die sich nicht einmal die Mühe machen, die vorhandene Fachliteratur und Quellenlage gründlich und unvoreingenommen zu studieren, aber ihrerseits von den Fachleuten erwarten, dass die sich mit der Außenseiterhypothese gründlich auseinandersetzen.
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#6
Bei Tacitus finde ich die Widerlegung der Interpolationshypothese einleuchtend, bei Josephus weniger, zumal da eh klar ist, dass mindestens das Testimonium in der existierenden Form gefaelscht ist (Ja, manche Kommentatoren bestreiten auch das, aber die kann ich nun wirklich nicht ernst nehmen). Ich kenne zwar den Trend der neueren Forschung, aber Trends koennen sich auch wieder umkehren. Wenn ich mich recht erinnere, ist Roger Pearse auch nur ein interessierter Laie; zumindest hat er in den Gespraechen nie etwas anderes behauptet.

Was Tacitus angeht, ist das doch eh egal. Tacitus ist keine Evidenz fuer die Existenz Jesu als reale Person. Er ist eine Evidenz, dass Christen existierten (und nicht mal das ist 100%ig klar); und letzteres hat eh (fast Icon_cheesygrin *) niemand bezweifelt.


*Das steht hier nur fuer den ja auch existierenden Kreis von Menschen, die meinen, Konstantin haette das Christentum erfunden, worauf ich mir einen Kommentar spare.
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#7
https://www.academia.edu/8878547/Symposi...Simonides_

also alles Deppen?

Manning
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#8
(10-01-2022, 00:14)Ulan schrieb: Wenn ich mich recht erinnere, ist Roger Pearse auch nur ein interessierter Laie; zumindest hat er in den Gespraechen nie etwas anderes behauptet.
Pearse mag Laie sein, aber es geht ja nicht um seine persönliche Meinung, sondern nur darum, dass er eine Zusammenfassung der wichtigsten Fakten und Argumente mit Quellen- und Literaturangaben online bietet, die für diese Diskussion benötigt wird, da wahrscheinlich viele Leser hier kaum Zugang zur Printliteratur haben.
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#9
@Helmut-Otto: Was soll Simonides mit der Frage zu tun haben? Er ist sicherlich eine schillernde Figur und hat auch hier und da gefaelscht, aber nicht alle seine Erzaehlungen sollte man fuer bare Muenze nehmen. Er hatte da ein paar offene Rechnungen, und da hat er halt ein wenig mit Schmutz geworfen. Seine Beschuldigungen checken nicht aus. Er wollte halt nicht als einziger Buhmann stehen bleiben.

@Apollonios: Ja klar, ich finde, dass er meist ganz ordentlich arbeitet und ein paar gute Ideen bringt. Ich stimme trotzdem nicht mit allem, was er sagt, ueberein.
Seine These zu Ignatius und Peregrinus war ganz amuesant (im guten Sinne).
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#10
Simonides Fälschung wird von "Fachleuten" als echt anerkannt!

Ich habe mich in den Jahren meiner Suche immer wieder in Frage gestellt und dann überprüft!

Warum gibt es in Deutschland 82 Gemeinden, die St. Georg oder seiner nordischen Version St. Jürgen gewidmet sind??

In Frankreich zwei und in Spanien keine??

Manning
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#11
Das Problem mit Simonides ist, dass, als er wegen seiner Faelschungen aufflog, auch anfing, andere Dokumente als Faelschungen zu bezeichnen, um einigen seiner Kontakte, die ihm nun den Ruecken zukehrten, auf gut Deutsch ans Bein zu pinkeln. Nicht alles, was Simonides als Faelschungen bezeichnet, sind auch welche.

Und ich hoffe, Du bist nicht irgendwelchen Spinnern wie den Leuten vom "Project Sinaiticus" auf den Leim gegangen. Das sind KJV-Onlyists, also garantiert niemand, dem Du zuhoeren willst.


Ich bin mir nicht sicher, was die Bemerkung ueber St. Georg soll. Einige christliche Heilige sind wahrscheinlich erfunden? Klar doch. Das weiss doch jeder. Selbst Buddha hat es zum christlichen Heiligen geschafft. Die RKK ist doch ganz offen damit, dass sie Geschichte weitaus weniger interessiert als Tradition; egal was fuer eine Tradition das jetzt ist.
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#12
Tacitus und Sueton erfunden?

Der jüngere Plinius wäre dann wohl auch erfunden worden? Samt Gedankenaustausch, den er mit Tacitus brieflich gepflegt hatte? Der - wie behauptet - ebenfalls erfundene Sueton kommt in den Pliniusbriefen auch vor. Für ihn erbittet Plinius bei Trajan das Dreikinderrecht.

Alles erfunden? Von Mönchen, denen langweilig gewesen war? Die zudem sprachlich-schöpferisch höchstbegabt waren?

Bemerkenswert ist auch ein Senatsbeschluss, über den Tacitus in den Annalen berichtet, der inschriftlich aber erst durch einen Fund aus dem 20. Jh (Tabula Siarensis) belegt ist. Den hätten mittelalterliche Fälschermönche wohl intuitiv erahnen müssen?

Einen epigraphischen Beleg aus dem Jahr 108, in dem neben Plinius auch Tacitus aufscheint, gibt übrigens es auch (CIL VI 10229). Ebenfalls gefälscht?
MfG B.
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#13
(03-01-2022, 02:32)Helmut-Otto Manning schrieb: Sueton ist ein Werk des 9. Jahrhunderts

Ich kenne dein Buch "Von Jesus kein Lebenszeichen!" nicht und daher auch nicht deine Argumentation für die Hypothese, dass De vita Caesarum im 9. Jahrhundert entstanden ist. Daher hier zunächst nur die Frage: Ist es dir gelungen, sämtliche Belege für Kenntnis und Verwendung dieses Werks vor dem 9. Jahrhundert, die der Herausgeber Robert Kaster zusammengestellt hat, zu entkräften? Dabei nehme ich Bezug auf Robert A. Kaster (Hg.), C. Suetoni Tranquilli de vita Caesarum libri VIII et de grammaticis et rhetoribus liber, Oxford 2016, praefatio; ders., Studies on the Text of Suetonius' De vita Caesarum, Oxford 2016; ders., The Transmission of Suetonius' Caesars in the Middle Ages, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 144 (2014), S. 133-186.
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#14
@Apollonius: Ich fand die These, dass die Erwaehnung der Hinrichtung von Christen durch Nero bei Tacitus eine Rueckuebertragung einer Passage von Sueton ist auch erst einmal interessant, aber auch die interessanteste Idee stirbt mit der entgegenstehenden Evidenz. Ausserdem ging es hier ja sowieso eigentlich nicht darum, ueber Christen zu reden, sondern darzustellen, wie schlimm Nero seiner Meinung nach gewesen sei.

Dass Tacitus sich bei seiner Recherche zu Christen irgendeine grosse Muehe gemacht haette, nehme ich jetzt nicht an. Er stellt fest, dass die Christen selbst zugeben, der Fanclub eines verurteilten Schwerkriminellen zu sein, womit sich fuer ihn jegliches weitere Faktenchecken wohl erledigt hatte.

Was denkst Du zu Buch 10 von Plinius dem Juengeren, in dem es um eine Christenverfolgung geht, um das Thema des Threads ein wenig weiter zu fassen: Faelschung?
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#15
Ein Professor für die Geschichte Sumers sagte mir, gerade das Buch 10 sei nicht glaubwürdig. Die Fragen, mit denen er als hoher Beamter den Kaiser belästigt, hätten ihm ein Treffen mit den Löwen im Colosseum eingebracht.

Wenn man das hier zur Kenntnis nimmt, ist es nicht abwegig, auch die "Abschriften" zu bezweifeln:

https://idw-online.de/de/news42283

Manning
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