13-01-2022, 06:04
(12-01-2022, 18:46)Ulan schrieb:Das sehe ich genauso wie Ulan und möchte dazu nur ergänzen: Dass sich die Großkirche damals so entschieden hat, war nicht willkürlich, war keine freie Entscheidung, sondern zwangsläufig, denn anderenfalls hätte sie ihre Deutungshoheit und damit ihre Existenzberechtigung als hierarchisch strukturierte Organisation aufgegeben. Das war den Kirchenvätern klar. Die Christenheit wäre dann so wie die Gnosis (das diesbezüglich abschreckende Beispiel) in unzählige autonome Grüppchen zerfallen, von denen jedes die erfundenen Geschichten anders deutet und neue hinzuerfindet (Apokryphen) und entsprechend einen eigenen Kultus und Ritus entwickelt sowie eigene Moralvorstellungen. Diese Grüppchen hätten dann auch synkretistisch Elemente aus nichtchristlichen religiösen Traditionen aufgenommen, und so wäre die Lehre schließlich in Beliebigkeit zerflattert und untergegangen. Das alles hatten die Kirchenväter in der Gnosis direkt vor Augen, das drohte ihnen; daher der abgrundtiefe Hass auf die Gnostiker und der fanatische Kampf gegen Häresie.(12-01-2022, 17:13)Farius schrieb: Somit wäre es ja auch keine Religion, denn es sind ja alles erfundene Geschichten.
Damit gibt es ja auch keine Antwort an suchende Menschen, die man mit gutem Gewissen weitergeben könnte.
Oder ist es theoretisch denkbar, dass man da etwas falsch sieht?
Ja sicher sieht "man" da was falsch. Die irrige Annahme ist, dass "erfundene Geschichten" und "Religion" irgendein Widerspruch waeren. Erfundene Geschichten funktionieren fuer Religion doch sowieso viel besser als wahre, weil man sie genau auf die gewuenschte Botschaft hin zuschneiden kann. Die Wahrheiten, die Religion vermitteln will, haben doch nichts mit historischen Wahrheiten zu tun. Das war ein Streit, der in der Kirche zur Zeit des christlichen Gelehrten und Theologen Origenes (gest. ca. 254 in Tyros), der erkannt hatte, dass die Geschichten in den Evangelien nicht historisch wahr sein koennen, ausgetragen wurde. Die Kirche hat sich bekanntlich anders entschieden, und daran krankt sie heute noch.
Letztlich ist die angesprochene Problematik im Wesen von Offenbarungsreligion begründet. Deren Geltungsanspruch steht und fällt mit dem Glauben an die Historizität der schriftlich fixierten Offenbarungsereignisse und an deren korrekte Aufzeichnung und mit der inhaltlichen Makellosigkeit der Lehre. Damit besteht eine unaufgebbare Bindung sowohl an kontingente historische Vorgänge als auch an das Prinzip der Irrtumsfreiheit der Offenbarungstexte. So hat die Offenbarungsreligion an beiden Füßen eine Achillesferse, auf die früher oder später historisch-philologische und naturwissenschaftliche Kritik zielt. Religionen ohne Offenbarung und entsprechende Dogmatik sind von Natur aus flexibler und haben es daher viel leichter.