15-11-2009, 15:21
(14-11-2009, 18:30)Heinrich schrieb:(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Ich fasse zusammen:
Du fasst die Bibel als Zusammenspiel moralischer Regeln und kultureller Geborgenheit auf. Ich behaupte, zweiteres folgt indirekt aus ersterem, aufgrund der Aufmachung.
Du sagst, je nach Zeitgeist interpretiert der Mensch die Bibel. Ich versuche objektiv die damalige Intention, die Bibel zu verfassen, zu betrachten.
Die Bibel wurde von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten verfasst. Von einer einheitlichen Intention auszugehen halte ich eher dann für erforderlich, wenn man eine göttliche Inspiration belegen will.
Im Bereich der Auslegung von Texten allgemein lehne ich es ab von einer ursprünglichen Intention des Autors auszugehen, die so etwas wie den wahren Inhalt des Textes ausmachen soll. Man begibt sich bei der Auslegung von Texten in den Bereich der Spekulation. Spekulationen als wahren Inhalt von Texten darzustellen empfinde ich als unangebracht.
Ich sehe noch weitere Funktionen von heiligen Texten als nur moralische Regeln und kulturelle Geborgenheit, z.B. Regeln zum Leben innerhalb der Gemeinde und zur Gottesdienstgestaltung (was ja keine moralischen Regeln sind), reine Unterhaltung, Beantwortung existentieller Fragen (Anfang und Ende der Welt, Leben nach dem Tod), etc...
Zwischen diesen Funktionen bestehen Wechselwirkungen. Von einem Primat auszugehen, das die anderen bestimmt, halte ich für schwierig. Mir genügt es zu erkennen, dass Wechselwirkungen bestehen und welche das sind.
Natürlich standen manche Funktionen besonders oft im Vordergrund der zeitgenössischen Betrachtung und natürlich haben diese Funktionen unser Verständnis von Religion entscheidend geprägt. Ich stimme auch zu, dass moralische Regeln zu den zentralsten Funktionen gehören. Ob sie wichtiger sind als kulturelle Geborgenheit, darüber mag ich nicht streiten. Ich weiß es nämlich nicht. Momentan scheint mir persönlich Geborgenheit etwas wichtiger zu sein. An deinen Überlegungen zum Thema bin ich aber sehr interessiert.
Ja, die Entstehung der Bibel war ein langwieriger Prozess, wobei die Autoren auf längst vergangene historische Gegebenheiten Bezug nahmen. Diese wurden durch Überlieferung Teils verfälscht oder gar zu Mythen stilisiert. Es gibt ja Vergleiche zwischen historischen Ereignissen und Bibelgeschichten, wo man merkt, dass die damaligen Autoren viel hineingedichtet haben.
Der Gottglaube war schon vor dem Christentum verbreitet. Die Autoren versuchten einfach vieles Gott zuzusprechen. Die Intention der Autoren würde ich gar nicht so sehr als nebulös abtun. Das waren damals einfach gestrickte Menschen, mit einer vagen Vorstellung von der Welt.
Leben innerhalb der Gemeinde und Gottesdienstgestaltung. Steht soetwas in der Bibel?
(14-11-2009, 18:30)Heinrich schrieb:(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Ich finde es verwerflich, Leuten eine angeborene Sünde zu propagieren. Der Mensch kommt als unbeschriebenes Blatt Papier auf die Welt und entwickelt sich anhand seiner Gene und der Umwelteinflüsse. Für mich neben der Hölle eine pädagogisch problematische Erfindung der Religion.
Ich denke, dass weniger die Propaganda im Vordergrund stand als die Erklärungsnot für gewisse Befindlichkeiten.
Dass es nicht zum guten Ton gehört jemanden Schuld einzureden um ihn für seine eigenen Ideen begeistern zu können, sehe ich ähnlich wie du.
Welche Erklärungsnot konkret? Ich verstehe die Erbsünde, wie gesagt, nur als Mittel zum Zweck; eine geniale Marketingstrategie. Gut, ob die damaligen Autoren schon so clever waren, oder ob die Erbsünde tatsächlich sinnbildlich gemeint war, kann ich nicht sagen.
(14-11-2009, 18:30)Heinrich schrieb:(14-11-2009, 17:41)humanist schrieb: Auf diese Folgerung könnte man in der Tat kommen. Ich lehne ja nicht den Mensch ab, jeder Mensch ist mir heilig.
Als was wird die Erbsünde, deiner Meinung nach, heutzutage erachtet?
Den Zusammenhand zur Psychologie habe ich nicht ganz verstanden.
Zu aller erst ist die Erbsünde das theologische Konzept, das du durch ein Zitat erläutert hast. Die Frage ist: was bezeichnet es?
Da leuchtet mir die Erklärung: "Etwas, das es nicht gibt", nicht ein. Wie sollte man etwas bezeichnen können, was es nicht gibt?
Ich suche also nach inneren Zuständen, Gemütslagen, Gedanken, die mit Erbsünde gemeint sein können. Es gibt nur eine Möglichkeit diese Suche anzugehen: Nach ähnlichen Konzepten/ Begriffen suchen.
Ein Konzept existentieller Schuld begegnet mir in der Literatur Kafkas. Besonders eindrücklich finde ich seinen Roman "Der Prozeß", der mit dem prägnanten ersten Satz beginnt: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."
Ein weiteres Konzept ist ein Inhalt symptomatischer Erscheinungen des Krankheitsbildes der Depression (und anderer psychosomatischer Erkrankungen). Ein irrational übersteigertes Schuldgefühl, das den Erkrankten dazu veranlasst sich selbst keine Lebensfreude mehr zu gönnen. Er fühlt sich schuldig dafür, wenn er sich freut, weil er nicht sieht, dass er es verdient hat. Er fühlt sich teilweise sogar schuldig dafür, dass er überhaupt existiert.
Therapiert wird das oft indem in langen Gesprächen mit dem Therapeut ein neues Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass man als Mensch überhaupt etwas wert ist, von Grund auf, ohne dafür eine Leistung erbringen zu müssen. Hierzu ist Überzeugungsarbeit nötig, denn der Erkrankte hat bereits Erklärungsmuster für sein Schuldempfinden gefunden, von denen er sich loslösen muss. Die christliche Erlösung durch den Opfertod Jesu Christi am Kreuz spielt imho nichts anderes auf symbolischer Ebene durch. Eine radikale Veränderung, die von der Erbsünde erlöst und damit einen neuen Menschen schafft.
Ehrlich gesagt, sind diese Erklärungen für micht nicht befriedigend. Das ist zu weit ab vom Offensichtlichen. Die meisten Menschen verspüren kein ursachenloses Schuldgefühl.
"What can be asserted without proof can be dismissed without proof." [Christopher Hitchens]