(09-06-2009, 03:05)Saldo schrieb: Ich schlage ein Brainstorming vor, wo alle Anmerkungen und Fragen erst mal gesammelt werden.Das einleitende Kapitel konfrontiert den Leser mit bestimmten Objekten des Denkens, die zu klären wären, wobei ich mit „F.“ Ludwig Feuerbach meine:
- Verhältnis von Mensch und Tier: Hieran definiert F., was „Religion“ ist, was ich nicht verstehe und deshalb skeptisch betrachte.
Ludwig Feuerbach schrieb:Die Religion beruht auf dem wesentlichen Unterschiede des Menschen vom Tiere – die Tiere haben keine Religion.
- Wesenheit oder das Wesen: F. benutzt diesen Begriff im Zusammenhang mit „Gegenstand“ (des Menschen) und der „Erkenntnis des Menschen“ bzw. seines Wesens. Dazu einige kritische Anmerkungen: F. bezieht diesen Diskurs auf die Fähigkeit des Menschen, die eigene Person als Gegenstand seines Nachdenkens zu bestimmen. Lassen wir einmal außen vor, dass F. diese Fähigkeit einem Tier abspricht, was aber durch die Kognitionsforschung nicht mehr allgemein aufrecht erhalten werden kann. Diese spezielle Auffassung vom „Wesen des Menschen“ wird hier als Unterscheidungsmerkmal zum Tier definiert.
Es ist grundsätzlich zu hinterfragen, ob solche Abhebungen (Differenz-Definitionen) nicht letztlich irrelevant sind. Die Aussageform Feuerbachs lautet etwas überspitzt ausgedrückt: Das Wesen des „Tieres“ ist es, kein menschliches Wesen zu sein und umgekehrt. F. nutzt aus diesem Zirkel nur den rechten Teil. Ich will die Gefahr dieser Art der Definition einmal an einem anderen Beispiel verdeutlichen:
Der Blumpf des „Wassers“ ist es, kein Blumpf des Landes zu sein und umgekehrt. Wissen wir eigentlich jetzt, wie wir uns einen „Blumpf“ vorzustellen haben? – Offensichtlich nein! Der Leser muss also wissen, was „Wesen“ bedeutet, auch ohne diese Einleitung. Später im Text gibt F. eine ganz andere Definition:
Ludwig Feuerbach schrieb:Die Vernunft, der Wille, das Herz. Zu einem vollkommenen Men-schen gehört die Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des Herzens.
Wozu dann die Differenz-Definition?
- Gegenstand: Ist die feuerbachsche Verwendung des Begriffes allgemeinverständlich? Ich denke nicht: Gemeint ist wohl die Selbsterfahrung. Der Gegenstand des menschlichen Bewusstseins ist also das „Ich“ oder das „Selbst“. Bedenken: Neurologische Forschungsergebnisse zeigen, dass diese Funktion nicht auf den Menschen beschränkt ist. Reaktionen auf die eigene Existenz zeigt auch ein Wald. Im Hinblick auf „Religion“ entwickelt F. hier einen Begriff, der meiner Meinung nach „ausfranst“, weil sich jeder dabei etwas anderes vorstellt.
- Bewusstsein (im strengsten Sinne): Hier taucht der Begriff „Wesenheit“ wieder auf. Für das, was für F. der Begriff „Bewusstsein“ darstellt, muss das Lebewesen seine Gattung zum Gegenstand seines Denkens machen können. F. sieht dies als wesentlich menschlich an und definiert diese wieder als Gegensatz zum Tier. F. setzt hinter „Gattung“ die Einfügung „seine Wesenheit“. Diese Einfügung macht deutlich, das F. in dem Begriff „Gattung“ einen Mangel erkennt, der zu füllen sei. Da aber „Wesen des Menschen“ nur durch einen Zirkel in die Debatte eingefügt wurde, wird jetzt der Begriff „Bewusstsein“ in diesen Zirkel eingebunden.
- Gattung, Gattungsfunktion: Diese Begriffe werden nur beispielhaft mit Denken und Sprechen synonymisiert. In der Tat können Tiere – um diesen Gegensatz geht es in der Einleitung – keine menschliche Sprache sprechen oder lernen. Die Frage ist, ob die Gattung Mensch nicht umgekehrt die Kommunikation der Tierarten einfach nur nicht begreift.
Dies läuft natürlich auf die gleiche Frage hinaus: Ist es vernünftig, den Menschen im Gegensatz zum Tier zu betrachten. Auf diesen Betrachtungen soll schließlich die Definition der Religiosität des Menschen beruhen. Ganz klar kommt diese Aussage in folgender Feststellung Feuerbachs zum Ausdruck:
- Religion:
Ludwig Feuerbach schrieb:Das Wesen des Menschen im Unterschied vom Tiere ist nicht nur der Grund, sondern auch der Gegenstand der Religion.
Ich muss ganz klar bekennen: Diese Auffassung teile ich nicht – zumindest nicht diese Abhebung gegenüber den Tieren. Tiere weisen, gemessen am Menschen, rudimentäres Bewusstsein auf, was Feuerbach noch nicht wissen konnte. Folglich müssten Tiere „religiöse Gegenstände“ kennen, was sein kann; aber wir wissen es nicht.
Dass das „Wesen des Menschen“ zugleich Gegenstand der Religion ist, bedarf der ausführlichen Erörterung. Man darf auf Weiteres gespannt sein!
- Das Unendliche und das Bewusstsein des Unendlichen:
Ludwig Feuerbach schrieb:Das Wesen des Menschen im Unterschied vom Tiere ist nicht nur der Grund, sondern auch der Gegenstand der Religion. Aber die Religion ist das Bewußtsein des Unendlichen; sie ist also und kann nichts andres sein als das Bewußtsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen. Ein wirklich endliches Wesen hat nicht die entfernteste Ahnung, geschweige ein Bewußtsein von einem unendlichen Wesen, denn die Schranke des Wesens ist auch die Schranke des Bewußtseins.
Nach F. ist das Wesen des Menschen unendlich. Wir Menschen sind aber „wirklich endliche Wesen“. Wir sind so beschränkt auf die so genannte Mittelwelt, dass wir uns alles, was darüber hinaus reicht in den Mikro- wie in den Makrokosmos nicht wirklich vorstellen können. Dazu gibt es eindeutige Erkenntnisse der Experimentatoren.
Was F. meint, könnte sein: Wir erschließen uns Mikro- und Makrokosmos durch mathematische Modelle, die Aussagen über die Enden unsere Welt in deren Mitte abbilden. Da wir einen unmittelbaren Zugang zur Außenwelt ohnehin nicht haben, bemerken wir diese Abbildungsfunktionen so wenig, wie wir bemerken, dass unsere einfache, erlebte Realität bereits Abbildung ist.
- Offenbarung des Wesens durch Mitteilung
Ludwig Feuerbach schrieb:Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand.
Der Text wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Er setzt „Denkenkönnen“ oder „Vorstellung“ voraus. „Gegenstand“ ist hier das Mitteilbare, d. h. das, worüber wir sprechen und sprechen könnten. Was ist dann mit „objektivem Ich“ gemeint? Und was „offenbart“ sich dadurch?
An dem Gegenstande wird daher der Mensch seiner selbst bewußt: das Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen. Aus dem Gegenstande erkennst du den Menschen; an ihm erscheint dir sein Wesen: der Gegenstand ist sein offenbares Wesen, sein wahres, objektives Ich. Und dies gilt keineswegs nur von den geistigen, sondern selbst auch den sinnlichen Gegenständen. Auch die dem Menschen fernsten Gegenstände sind, weil und wiefern sie ihm Gegenstände sind, Offenbarungen des menschlichen Wesens.
Ludwig Feuerbach schrieb:Was für eines Gegenstandes wir uns daher auch nur immer bewußt werden: wir werden stets zugleich unsres eignen Wesens uns bewußt; wir können nichts anderes betätigen, ohne uns selbst zu betätigen.“Bewusst werden“ meint wohl neudeutsch: darüber reflektieren, mit Erfahrungen verknüpfen, Urteile fällen. Wieso werden wir dabei „unseres Wesens bewusst“? Ist das so, oder tun wir nur, was typisch menschlich ist. Und wie typisch ist dies?
Ludwig Feuerbach schrieb:Es ist aber unmöglich, daß wir uns des Willens, des Gefühls, der Vernunft als endlicher Kräfte bewußt werden, weil jede Vollkommenheit, jede Kraft und Wesenheit die unmittelbare Bewahrheitung und Bekräftigung ihrer selbst ist.Könnte mir das jemand erläutern?
Für mich ist es eher selbstverständlich, dass unsere Vernunft, unser Wollen und Fühlen sehr beschränkt sind. Wir merken’s nicht.
F. stellt dazu Folgendes in den Raum:
Ludwig Feuerbach schrieb:Jede Beschränkung der Vernunft oder überhaupt des Wesens des Men-schen beruht auf einer Täuschung, einem Irrtum. … (Das Individuum) kann sich seiner Schranken, seiner Endlichkeit nur bewußt werden, weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenstand ist, sei es nun als Gegenstand des Gefühls oder des Gewissens oder des denkenden Bewußtseins. Macht es gleichwohl seine Schranken zu Schranken der Gattung, so beruht dies auf der Täuschung, daß es sich für eins mit der Gattung hält – eine Täuschung, die mit der Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbstsucht des Individuums aufs innigste zusammenhängt. Eine Schranke nämlich, die ich bloß als meine Schranke weiß, demütigt, beschämt und beunruhigt mich. Um mich daher von diesem Schamgefühl, von dieser Unruhe zu befreien, mache ich die Schranken meiner Individualität zu Schranken des menschlichen Wesens selbst. …Steckt hinter diesem schwer verständlichen Text ein Postulat, nämlich offensichtliche Beschränktheiten unserer Vorstellung (was experimentell erwiesen ist) durch vernunftgemäße Abbildungen (siehe oben) zu überwinden? (was ja auch tatsächlich geschieht).
Ludwig Feuerbach schrieb:Wohl mag er sich vermittelst der Phantasie Individuen anderer, angeblich höherer Art vorstellen, aber von seiner Gattung, seinem Wesen kann er nimmermehr abstrahieren; die Wesensbestimmungen, die er diesen andern Individuen gibt, sind immer aus seinem eignen Wesen geschöpfte Bestimmungen – Bestimmungen, in denen er in Wahrheit nur sich selbst abbildet und vergegenständlicht.Eben! Das sind feststellbare Grenzen. Deswegen fällt mir der Unterschied zu der voraus gehenden Kritik an der (Selbst-) Beschränkung auf. Wer über dies Menschenwelt nachdenkt, kann die tatsächlichen Schranken auch erkennen. Es gibt da ganz nette Selbsterfahrungen mit geometrischen Reihen, Sinnestäuschungen und Ähnliches. Ich halte es für selbstverständlich, dass wir diese Beschränkungen größtenteils nicht wahr nehmen. Deswegen hat es ja im Mittelalter die Kritik an Kepler und Galilei gegeben, die unseren Horizont durch eine Abbildung erweitert haben. Ein Fernrohr macht nichts anderes, als die für uns unzugängliche Entfernung auf unsere Mittelwelt abzubilden. Damit wurde auch unsere Vernunft „erweitert“ oder an dieser Stelle entschrankt. Aber wir sollten uns bescheiden geben, weil wir nicht wissen, wo weitere Schranken stehen!
Ludwig Feuerbach schrieb:Der Mensch kann nun einmal nicht über sein wahres Wesen hinaus.Eine kluge Feststellung!
Ludwig Feuerbach schrieb:Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein eignes Wesen. Die Macht des Gegenstandes über ihn ist daher die Macht seines eignen Wesens.Dieses Argument ist richtig, sobald ich Gott zum „Gegenstand“ meiner Überlegungen mache. Da hat F. vollkommen Recht. Die Anmerkung von Petronius auf eine entsprechende Äußerung meinerseits ist auch richtig: Die Kirchen äußern sich über Gott, als sei ER ein Gegenstand unserer religiösen Vorstellungen. Dem widerspricht aber bereits das AT. Die Frage ist also: Fördern wir diese Art der Gottesvorstellung und tappen damit den Philosophen in die selbst gebastelte Falle.
Liefert die Einleitung etwas Tragfähiges über Religion?
Mit freundlichen Grüßen
Ekkard
Ekkard

