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Existenz
#22
(07-11-2025, 18:02)bellevue schrieb:
(07-11-2025, 16:06)Ekkard schrieb: Wie ernst muss man solche Wahrheiten nehmen?

Ich meine sehr ernst!

Vorab: Auch der Begriff "Wahrheit" zählt ja letzten Endes zu den kürzlich erwähnten Sprachverwirrungen, den "Substantivierungen". Denn genau genommen gibt es nur Aussagen (welcher Art auch immer), die entweder "wahr", "falsch" oder, sofern nicht überprüfbar, beliebig und gegestandslos sind. Im umgangssprachlichen, alltäglichen Bereich ist der Gebrauch des Wortes "Wahrheit" meiner Meinung nach dennoch völlig OK. Im philosophischen und speziell im "weltanschaulichen" Diskurs aber ist "Wahrheit" letztlich eine völlig sinnentleerte Begrifflichkeit, die dafür aber mit lauter aufgeblasenen, moralinsauren Emotionen angefüllt wird und mit der man dann wie mit einer irgendwie existierenden "Entität" herumjongliert.

Und weil das Wort "Wahrheit" überhaupt nichts Sinnvolles aussagt, man damit aber teils heftige Emotionen und emotional aufgeladene Urteile schüren kann, ist es gerade bei religiösen Ideologien mit Allein-Wahrheits-Vertretungs-Anspruch über alle Maßen beliebt. Hier werden mal eben sogar "Personen" zur "Wahrheit":

"Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben..." (Johannes 14,6)

Und da sind wir dann beim Ernstnehmen von beliebig konstruierten "Wahrheiten":

"All deine Gebote sind Wahrheit..." (Psalm 119,86)

Natürlich sind religiöse Gebote lediglich von Menschen erdachte Anweisungen, was getan werden soll (weil es "gut" ist) bzw. was unterlassen werden soll (weil es "böse" ist). Mit den logischen Partikeln "wahr" oder "falsch" hat das selbstverständlich überhaupt nichts zu tun. Indem man sie jedoch zu "Wahrheiten" erklärt, macht man sie zum mystifizierten, emotionsgeladenen Kampfmittel.

Dass dieser "Wahrheits"-Irrsinn eine monstöse Blutspur in der ohnehin traurigen Geschichte der Menschheit hinterlassen hat, ist allseits sicherlich genau so bekannt, wie der traurige Umstand, dass die auf der Überzeugung, im vermeintlichen Besitze der "alleinigen Wahrheit" zu sein, gründende Gewalt bis heute andauert. Man denke da nur an den abartigen, gruseligen Islamismus. Und ganz allgemein kann man ja in fast allen Diktaturen und Autokratien dieser Welt die eifrigsten Unterstützer derselben in den Inhabern der alleinigen, göttlichen "Wahrheit(en)" ausmachen.

Die Argumentation gegen den Unsinn von nach Belieben konstruierten "Wahrheiten" ist jedenfalls für mich definitiv mehr als ein bloßer, amüsanter Zeitvertreib im Rahmen philosophischen Dilettierens...

... wer das Wort "Wahrheit" nur über Bibel-Zitate erklären/verstehen möchte, der ist nur auf einem Bein humpelnd unterwegs!

"Wahr" ist z.B., dass alle user, welche hier mitmachen, zwar jetzt noch zu den wahrhaftig Lebenden gezählt werden können, in 100 Jahren aber sicher nicht mehr ...
So ist auch "Wirklichkeit" an sich keine dauerhafte "Wahrheit", da sie ständigen Veränderungen unterworfen ist - und zwar aus unterschiedlichsten Gründen.
Die so viel angeführte Frage nach Wahrheit ist weit gefächert und u.a. mit dem Erkennen von Dasein auf diesem kleinen Planeten noch lange nicht beantwortet.
Was dem Menschen als Aufgabe bleibt, ist das Erhellen des Sinns von Wahrheit. Dabei stößt er auf Grenzen und Ausnahmen.

So ist das Jesus-Zitat (Joh. 14,6) schon mal völlig anders einzuordnen, als z.B. die einfache wahre Aussage, dass 25+25 = 50 sind. Die geläufigen Meinungen über "Wahrheit" erweisen sich zumeist als Ausdruck des Bedürfnisses nicht nach Wahrheit, sondern nach einem Halt. - Man will viel lieber etwas Festes, um sich nicht am Weiterdenken zu überheben, scheut also unablässiges Weiterdenken. (Manche user halten ja bereits die Frage nach dem Sinn ihres Daseins als überflüssig!) 
Nicht selten wird "Wahrheit" auch, scheinbar klar, als Ausdruck von verschleierten Daseinsinteressen benützt. In der menschlichen Gesellschaft ist auf das Wahre wenig Verlass und so ist der Advokat leider nicht zu entbehren, um eine Wahrheit in unserer Welt durchzusetzen. Wahrheit und Unwahrheit sind seit jeher gleichermaßen in unzähligen Lebensbereichen zum Kampfmittel geworden.

Beispiele mangelnder Wahrheit in psychologischen oder soziologischen Tatbeständen können das Wahrsein als solches nicht gefährden, aber nur dann, wenn Wahrheit unantastbar ist, in sich selbst besteht und von einer gelingenden oder misslingenden Verwirklichung zu trennen ist.
Die Trennung von Wahrheit an sich und ihrer Verwirklichung ist in begrenzten Situationen für endliche, partikulare Wahrheiten sinnvoll, wenn sich Erkenntnis und techn. Anwendung der Erkenntnis scheiden. - Aber eine solche Scheidung kann wohl für besondere Verwirklichungen der Wahrheit in bestimmten Strukturen, nicht im Ganzen für Wahrheit schlechthin anerkannt werden! 

Das Wahre, auf das es ankommt, könnte seiner Natur nach sich der Eindeutigkeit und Einmütigkeit einer jeden Aussage entziehen! - Es war und ist so, dass ein Mangel an einer einzigen allumfassenden Wahrheit an sich besteht - als Grundtatbestand unseres Greifens nach "Wahrheit" in der Welt. - Das für absolut wahr Gehaltene wird gerne als falsch gestempelt, sowohl unter Menschen gegeneinander, wie im einzelnen Menschen gegen sich selbst, und zwar so, dass keine endgültige Lösung eintritt, wohl aber die Menschen jeweils selbst die Wahrheit zu besitzen meinen. - 
Irren ist bekanntlich menschlich und lebensbeherrschende Wahrheit erweist sich Anderen als falsch. - In unserer Welt hören wir die aufeinander treffenden Behauptungen aus wesensverschiedenen Ursprüngen. Dieses gleicht oft einem Lärm, der in seinen Explosionen zu Massenerscheinungen durch die Jahrhunderte geht.

Das sehr schwierige Thema ist damit nur angerissen, keinesfalls erschöpft - und verdient an sich einen extra thread ...

Gruß von Reklov
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