02-10-2024, 17:17
(01-10-2024, 23:02)Ekkard schrieb: Wie gesagt: Mit der Bezeichnung kann ich leben. Sie klingt aber abwertend - und zumindest historisch gesehen sollte dies auch so sein.
(02-10-2024, 14:30)petronius schrieb: von mir aus nenn mich einen materialisten - ich fühle mich damit halt nicht getroffen, weil ich aus der bloßen tatsache realer evidenz keine ideologie, keinen -ismus mache, der mich, mein wesen und mein leben bestimmen würde.
Der Materialismus hat ja durchaus seinen Platz. Er beschreibt die materielle Ebene des Daseins wunderbar und setzt enge Grenzen, was als real anerkannt wird und was nicht. Nur durch diese Fixierung auf das empirisch Nachweisbare konnte die Naturwissenschaft so vieles erforschen, was uns vorher unbekannt war. Mich fasziniert zum Beispiel die Kosmologie, überhaupt alles, was mit dem Weltraum zu tun hat, schon seit meiner Kindheit. Genau so interessant finde ich die Erforschung des Mikrokosmos, also die Quantenphysik.
Alle diese Fortschritte, die da gemacht wurden und die uns ja auch so ganz nebenbei die moderne Technologie geschenkt haben, waren natürlich nur möglich durch eine ganz strikte Reduzierung des Denkens in eine ganz präzise Richtung. Nur hier, genau an dieser Stelle kommt jetzt das Problem: Eben gerade weil uns das materialistische/reduktionistische/rationalistische Denken einen solchen Wissensschatz und eine solche Hochtechnologie beschert hat, sind wir sozusagen der Versuchung erlegen, daraus den Schluss zu ziehen, dass uns eben diese Denke auch die Welt und das Dasein als Ganzes entschlüsseln können muss.
Und genau hier liegt meines Erachtens der Trugschluss. Denn wie ich eingangs sagte, ist diese Denke eben sehr, sehr beschränkt durch die strikte Fixierung auf das Messbare und Beweisbare. Wenn man diese Methodik nun anwenden will, um nicht nur die Einzelphänomene, sondern auch das Ganze zu beschreiben, dann wird eben diese innere Beschränkung, welche zuvor so große Vorteile gebracht hatte (Wissen und Technologie) zum absoluten Nachteil. Denn alles, was wir durch diesen Denkvorgang bekommen, ist die Summe aller Einzelteile und nichts darüber hinaus. Schopenhauer hat es mit folgendem Gleichnis gesagt: Wenn er sich mit Naturwissenschaft befasst hat, ist ihm immer so zumute gewesen, als ob ihn ein Gelehrter von Einzelphänomen zu Einzelphänomen führt und er selber sich aber nur fragt: Aber was habe ich denn mit all dem zu tun? Und zu Schopenhauers Zeiten gab es ja die moderne wissenschaftliche Methode noch gar nicht. Heutzutage gilt das noch viel mehr.
Die Wissenschaft kann uns alle Einzelphänomene bis ins Detail beschreiben, aber wie das alles miteinander zusammenhängt, das große Gesamtbild, muss ihr verborgen bleiben. Und genau deshalb sind esoterische Strömungen wie die Anthroposophie so langsam wieder im Aufwind. Die Menschen spüren einfach, dass das moderne reduktionistische Denken eben genau das ist - eine Reduktion, eine Reduzierung. Der Materialismus ist sozusagen über sich selbst hinausgewachsen, er kennt seinen Platz nicht mehr und reduziert das ganze Dasein, auf das, was er sehen kann: Beweise, Messungen, logische Schlüsse.
Ich bin mir ganz sicher, dass die Menschen in einigen hundert Jahren auf unsere Zeit und dieses Denken mit einer ganz besonderen Mischung aus Verwunderung, Abscheu und Mitleid zurück blicken werden. Man wird es historisch vermutlich so einordnen, dass diese Phase der materialistischen Dominanz eine notwendige Gegenbewegung zur Religionsdominanz des Mittelalters war. Die Aufklärung war absolut nötig um eine Trennung von Staat und Kirche herbeizuführen und um die Menschheit durch die Wissenschaft und die Technologie voran zu bringen. Doch dann ist das Pendel viel, viel zu weit in die andere Richtung geschwungen. Und vielleicht erleben wir in diesen Jahren und Jahrzehnten jetzt den langsamen Rückschwung des Pendels.
Aber natürlich sollte das Pendel auf keinen Fall zurück zur Theokratie schwingen, das versteht sich von selbst. Selbstverständlich wäre die ideale Position des Pendels der Stillstand in der Mitte, aber Stillstand nur im äußeren Sinne. Durch eine neue Wissenschaft, also eine echte Geisteswissenschaft könnten ja beide Strömungen miteinander vereinigt werden und dann würde das Pendel zwar stillstehen, aber es würde eine neue Bewegung, eine Vertiefung des Geistigen stattfinden. Aber vielleicht bin ich da auch zu optimistisch. Möglicherweise sind noch weitere Jahrhunderte oder gar Jahrtausende des Pendelschwingens nötig, bevor sich die Menschheit wirklich darauf besinnt, den eigenen geistigen Ursprung zu erforschen.