12-01-2022, 04:24
(04-01-2022, 01:41)Helmut-Otto Manning schrieb: Kulte, ich vermeide das positiv besetzte Wort Religion, so weit es geht, werden nie von Einzelpersonen "gestiftet"Das ist eine interessante und weitreichende These, die allerdings einer einleuchtenden Begründung bedürfte. Eine solche fehlt noch. Ich halte die Gegenthese für überzeugender: Neue religiöse Gruppen mit neuem charakteristischem Lehrgut, die als solche auch Kult betreiben und sich im Extremfall sogar zu Weltreligionen entwickeln, sind in der Regel das Ergebnis der Initiative von Einzelpersonen, die ihnen auch das Gepräge verleihen. Es gibt in der Regel den Stifter, der den Impuls gibt und der Neuerung Struktur verleiht und die Richtung vorgibt. Bei Offenbarungsreligionen ist das sogar zwangsläufig der Fall. Zwar bedarf die neue Religion oder der neue Kult eines begünstigenden Umfelds, damit das Neue sich entwickeln und gedeihen kann, aber zwingend notwendig ist das nicht; zur Not geht es auch ohne das. Es ist auch nicht so, dass zuerst ein Bedarf an einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion besteht und dann ein neuer Kult so entsteht und geformt wird, dass er diesen Bedarf optimal befriedigt. Das frühe Christentum stand völlig quer zu dem, was damals gesellschaftlicher Bedarf war, und wurde daher als asozial angegriffen (etwa von Kelsos); nur in einem mühsamen und sehr langwierigen Prozess konnte es so umgeformt werden, dass es schließlich als Staatsreligion tauglich war. Auch der Manichäismus, der Weltreligion wurde, und die Gnosis entstanden nicht zwecks Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion, etwa als ideologischer Überbau für einen aktuellen sozialen oder sozio-ökonomischen Umbau; der Manichäismus im Sasanidenreich und im Römischen Reich war in der Gesellschaft ein extremer Fremdkörper, ohne jegliche Funktion, vielmehr geradezu mit einer gesellschaftlichen Anti-Funktion, Sand im Getriebe, und wurde entsprechend bekämpft.
Das reicht höchstens für Sekten, die aber immer in enger Anlehnung an der herrschenden Kult bleiben, etwa "Mormonen" oder "Zeugen Jehovas".
Kulte haben gesellschaftliche Funktionen und unterliegen deshalb den Gesetzen der Evolution. Erst die Neuerung in der Gesellschaft, dann die Rechtfertigung durch Abänderung des bekannten Kultes.
Im übrigen ist die Unterscheidung zwischen Religionen/Kulten und Sekten rein künstlich und hat kein Korrelat in der Wirklichkeit. Das anfängliche Christentum und der anfängliche Islam waren klassische "Sekten" mit allen entsprechenden Merkmalen (insoweit der Begriff "Sekte" überhaupt einen definierten Inhalt hat). Daher ist die Unterscheidung zwischen Religionen (ohne Stifter) und Sekten (mit Stifter) unangebracht.