(23-06-2019, 18:32)Geobacter schrieb:(23-06-2019, 13:40)Ulan schrieb: Eine Ueberarbeitung in mehreren Schritten erklaert dabei relativ zwanglos die auf verschiedene Verfassungszeiten hinweisenden Elemente, da antike Autoren oft die Werke anderer Autoren recycleten, ohne diese zu erwaehnen. Auch war es nicht ungewoehnlich, dass verschiedene Fassungen des gleichen Textes im Umlauf waren, manchmal sogar vom selben Autor.
Klingt ja fast so, als wenn es sich bei "diesen Evangelien" damals um eine Art besonders beliebte und sehr gefragte Unterhaltungslektüre gehandelt hat. Weil beim damaligen Stand der "Vervielfältigungstechnik" immer nur Kleinstauflagen möglich waren, haben die Schreiber und ersten Raubkopierer der Evangelien sicher nicht schlecht verdient.
Möglicherweise, mussten die Geschichten sogar immer ein kleines bisschen abgeändert werden.. damit die Autorensteuer weniger heftig ausfiel.
So etwas wie Urheberrecht oder "Autorensteuer" gab's damals nicht. Es gab weder eine Vorschrift noch irgendeine gesellschaftliche Vereinbarung, den Namen des Autors, dessen Text man verwendet hatte, zu nennen. Oft genug wurde der geaenderte Text aber auch unter dem Namen des Originalautors veroeffentlicht. Ich rede hier uebrigens nicht nur ueber Evangelien, das war ganz allgemein so. Wir kennen die Praxis vor allem deshalb, weil das auch mit einem Werk Homers passierte, wo jemand eine neue Version mit dramatisch "verbesserten" Szenen geschrieben hatte (das war dann so etwas wie die "Hollywood"-Version) und das unter dem Originaltitel und dem Namen des Homers in die Bibliotheken gestellt hatte, was dann auffiel. Auch Irenaeus sagt wohl in einem seiner Buecher gegen Markion, dass es ihm zweimal passiert sei, dass vorherige Fassungen seines Buchs gestohlen worden und gegen seinen Willen veroeffentlicht worden waren, wobei er sich vom Inhalt dieser Fassungen ausdruecklich distanzierte. Das kann in dem Fall natuerlich auch eine Schutzbehauptung sein, weil er sich mittlerweile von seinem Geschreibsel von vor Jahren distanzieren wollte, aber sei's drum; auch dort koennte man verschiedene Versionen finden, wenn sie ueberlebt haetten.
Auch bei den Werken der Kirchenvaeter gibt es durchaus Hinweise, dass Irenaeus ein Werk von Justin dem Maertyrer gegen die Juden in einen Teil seiner Schrift gegen Markion umgewandelt hatte, waehrend sein Werk wiederum von Tertullian als Vorlage benutzt wurde. Das sind aber nur Mutmassungen und stehen nirgendwo im Text. Bei religioesen Schriften aus dem semitischen Raum ist noch die dortige Text-Tradition zu beachten, religioese Werke grundsaetzlich anonym zu veroeffentlichen, damit alle Ehre dem Gott und nicht dem Autor zukam, was natuerlich sowieso bedeutete, dass die Texte frei abaenderbar waren. Das wurde dann auch nicht als Frevel gesehen, sondern es wurde ja versucht, die Ehre Gottes zu vergroessern.
Was die sequentielle Abaenderung im Falle des Lukas-Evangeliums angeht, so kann man auf diese Weise auch vollkommen die mutmassliche Quelle Q loswerden. Wenn Matthaeus eine alte Fassung des "Lukas-Evangeliums", die dem markionitischen Werk aehnlich sah (unter anderem ohne Weihnachtsgeschichte), und das Markus-Evangelium mehr oder weniger in seiner jetzigen Form verwendet hatte, so erklaert das "Lukas"-Elemente im Matthaeus-Evangelium. Der "katholische" Editor von Lukas-Evangelium und Apostelgeschichte mag dann Elemente aus dem Matthaeus-Evangelium benutzt haben, um den Text auf "orthodox" zu trimmen. Die Verwendung einer anderen Weihnachtsgeschichte braucht dann allerdings noch eine Erklaerung. Entweder hatte das Matthaeus-Evangelium damals noch nicht die eigene Weihnachtsgeschichte, oder er hatte ein zu Markions Version paralleles Werk benutzt, das schon eine Weihnachtsgeschichte addiert hatte, oder ihm missfiel irgendetwas an der matthaeischen Weihnachtsgeschichte. Separate Evangelien ueber die Kindheit Jesu waren ein eigenes Genre mit mehreren Beispielen, die uns bekannt sind, so dass man sich auch dort aus einem bestehenden Vorrat bedienen konnte.