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Verfassung - Bion - 20-04-2020

(Text in Arbeit)

Unter Verfassung versteht man im weiteren Sinn die gewachsene oder auf Übereinkommen basierende (oft in gemeinsamen Ideen, Neigungen und Wertevorstellungen begründete) Grundordnung einer Gemeinschaft (Vereinsverfassungen, ↗Kirchenverfassungen, etc.). Im engeren Sinn und in der ↗Politikwissenschaft sowie der ↗Rechts- und Staatslehre bedeutet Verfassung  die in der Regel in einer Urkunde festgehaltene, nur unter erschwerten Bedingungen abänderbare, über allen anderen Rechtsnormen stehende Grundordnung eines Staates (Staatsverfassung, Grundgesetz, Staatsgrundgesetz).  In einem solchen Grundgesetz sind  die Prinzipien der Organisation des Staates festlegt. Eine moderne Staatsverfassung  enthält Vorschriften über die wichtigsten Staatorgane (Bestellung, Amtszeit, Zusammensetzung, Aufgaben, Befugnisse) und ihr Verhältnis zu den Bürgern. Sie enthält darüber hinaus Bestimmungen zu wichtigen Institutionen des Staates (Beamtenschaft, Parteien, Gewerkschaften,  Schulen, Hochschulen, Armee), zu den Gebietskörperschaften (Bundesländer, Gemeindeverbände, Gemeinden) und eine Festschreibung der Grundrechte (↗Vereins- und Versammlungsfreiheit, ↗Religionsfreiheit, ↗Meinungs- und Pressefreiheit, ↗Freiheit von Kunst und Wissenschaft↗Gleichheitsrechte, ↗Unverletzlichkeitsrechte, ↗Widerstandsrechte, ↗Asylrechte, etc.) und Grundpflichten der Bürger. Bei Bundesstaaten regelt die Verfassung auch die Verteilung der Zuständigkeiten und das Verhältnis des Staates und der Gliedstaaten zueinander (Landesgesetzen zu Bundesgesetzen, Landesverfassungen zur Bundesverfassung, Aufgabenverteilung, Finanzausgleich, etc.).

Das Verständnis, wonach "Verfassung" als Ordnung des Gemeinwesens begriffen wird, lässt sich schon in der ↗Antike ausmachen. In Texten von ↗Platon (428/427–348/347 vC), ↗Xenophon (≈425-354 vC) und ↗Aristoteles (384-322 vC) sind Verfassungen erwähnt (zB jene von ↗Kreta, ↗Sparta und ↗Athen) und Verfassungsentwürfe theoretisch angedacht (zB in den Nomoi).

Niedergeschriebene Verfassungen gab es in der Antike nicht. Auch die Unterscheidungen zwischen höher- und niedrigrangigen Gesetzen und erschwerte Gesetzeserzeugungsregeln (zB Zweidrittelmehrheiten, etc.) sind nicht bekannt. Im römischen Staatsrecht war der Begriff "constitutiones" als Bezeichnung für die Gesamtheit der von den Kaisern erlassenen Vorschriften allgemeinen Inhalts1 mit Gesetzescharakter in Verwendung.

Wenngleich Gesamtregelungen zur Ausübung politischer Herrschaftsgewalt erst ab dem 18. Jahrhundert anzutreffen sind, kann man Entwicklungen dorthin schon ab dem ↗Hochmittelalter ausmachen. Es sind das Limitierungen fürstlicher Machtausübung zugunsten der ↗Stände. Als Beispiele seien die ↗Magna Charta Libertatum in England (1215), die Goldene Bulle des András II. von Ungarn (1222) und der Tübinger  Vertrag im Herzogtum Württemberg (1514) genannt. Wenn Herrscher gegen solche Fundamentalgesetze verstießen, reagierten die Stände mit Widerstand.

Die Idee, dass ein Fürst in seinen Handlungen an höheres (göttliches) Recht gebunden sein könnte, reicht bis in die Antike zurück. In der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur ↗Neuzeit gewinnt zunehmend die Meinung Gewicht, dass ein Herrscher auch höheres irdisches Recht zu beachten habe und er sich nicht über den Willen der Gesamtheit der Rechtsunterworfenen seines Herrschaftsbereichs erheben dürfe.

Seit dem 16. Jahrhundert findet man häufig den Begriff leges fundamentales, und zwar für Vereinbarungen, die zwischen Herrschern und Landesständen2 getroffen wurden und sozusagen als Staatsgrundgesetze  Geltung erlangten. In England kommt es zur synonymen Verwendung der Begriffe fundamental laws und constitution. Als Staatsgrundgesetze sind seit dem Spätmittelalter auch dynastische Hausgesetze,  Herrschaftsverträge, Friedensverträge und ↗Wahlkapitulationen wirksam.

Von der herausgehobenen Bedeutung der leges fundamentales lässt sich der Bogen zur späteren Höherrangigkeit von Verfassungsgesetzen spannen.

Formell ist "Verfassung" ein Gesetz, das die Organisation der Staatsmacht beschreibt und beurkundet, sie legitimiert und zugleich bindet. Die wichtigsten Eigenschaften einer Verfassung sind deren Vorrang vor einfachem Recht und ihre erschwerte Abänderbarkeit. Sie ist in Verfassungsurkunden (Grundgesetzen, Staatsgrundgesetzen) festgeschrieben. In Ausnahmefällen reichen Kompilationen von Verfassungsgesetzen bis ins Mittelalter (in Großbritannien als sog. "ungeschriebene Verfassung") zurück.

Die erste Kodifikation3 einer Verfassung erfolgte mit jener der Vereinigen Staaten von Amerika im Jahre 1787.

↗Diktaturen, die über Verfassungen verfügen, bedienen sich dieser nur, wenn es zur Ausübung der absoluten Macht als nützlich empfunden wird. In diktatorischen Staatsformen haben Verfassungen vornehmlich  formelle und kaum materiell-rechtliche Bedeutung.



1) Im Gegensatz zu kaiserlichen Reskripten, mit denen Entscheidungen in Einzelfällen  getroffen wurden.

2) Landstände: Vertreter von Bevölkerungsgruppen (Klerus, Adel, Bürger, Bauern), die in Gemeinschaft mit dem Fürsten die Herrschaft über ein Land ausüben. Solche Mitwirkungsrechte, die seit dem Hochmittelalter anzutreffen sind, gehen im Laufe der Frühen Neuzeit nahezu überall wieder verloren (Absolutismus).

3) Unter Kodifikation ist die Schaffung eines Gesetzeswerks zu verstehen, das mit dem Ziel hergestellt wird, ein Rechtsgebiet (auch mehrere Rechtsgebiete) möglichst erschöpfend zu einem einheitlichen Gesetzbuch zusammenzuführen.
 


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